Herzbesetzer (German Edition)
aufstellen.«
Anoki lächelt nicht mal. »Wir suchen uns ’ne größere Wohnung«, erläutert er gebieterisch. »Wir klären das mit dem Jugendamt und melden mich hier bei ’ner anderen Schule an. Du kriegst das Pflegegeld, ich glaub, das deckt die Mehrkosten. Ich such mir ’n Job, dann kann ich noch was zum Haushalt beisteuern.«
Ich bin sprachlos. Vor mir steht kein labiles, haltloses Heimkind, sondern ein selbstbewusster junger Erwachsener mit einer glasklaren Vorstellung von seiner eigenen Zukunft. Und ich bin sein Werkzeug. Kein ganz unwilliges, das gebe ich zu.
Trotzdem gibt es da noch eine Menge Unklarheiten. Zum Beispiel dieses mehrfache »Wir« in seiner prägnanten Rede. Damit meint er ja wohl eher »Du«, oder? Und an die Sache mit dem Job glaube ich auch nicht recht, es sei denn, er versteht darunter Tätigkeiten wie Dealen oder Klauen. Aber ich will nicht kleinlich sein. Mein Hauptproblem liegt ganz woanders, und darüber kann ich mit ihm nicht reden: Wie soll ich das aushalten, ihn Tag für Tag so nah bei mir zu haben, ohne die hauchdünne Linie zu überschreiten, die mich vom Kinderschänder trennt? Da müsste ich mich vermutlich einem medizinischen Eingriff unterziehen, den ich bestimmt bereuen würde. Und Judith auch. Apropos Judith: Wie soll ich ihr klarmachen, dass ich Knall auf Fall mit meinem dahergelaufenen Nachwuchsbruder zusammenziehe, aber ihre Andeutungen bezüglich einer gemeinsamen Wohnung verbissen ignoriere? Anoki lässt mir keine Zeit, Bedenken zu kultivieren. »Was ist jetzt? Geht das klar?«, drängt er mich. Ich sehe ihn an, wie er da vor mir steht: ein ganzes Stück kleiner als ich, aber mit einem Selbstbewusstsein, das meins um drei Köpfe überragt – obgleich es gerade ein bisschen auf seinen Stelzen zu schwanken scheint. Wenn ich mich seiner Bitte – seinem Befehl – widersetze, kracht es zu Boden. Ich allein entscheide über Anokis Zukunft. Top oder Flop. Gefeierter Schauspieler und Regisseur oder drogensüchtiger Gangster. Geliebt oder verstoßen. Was überlege ich eigentlich noch?
»Als ob ich dir jemals den Gehorsam verweigert hätte«, murmele ich. »Natürlich geht das klar, wenn du das willst.« Ich habe nicht damit gerechnet, deshalb kickt es mich umso mehr: sein ganz besonderes Lächeln. Ein Sonnenaufgang in der Karibik ist ein Scheißdreck da
gegen, ungelogen. Fast sinke ich auf die Knie.
»Na, geht doch«, sagt Anoki, von Liebe umstrahlt.
87
»Diese ganze Mutter-Kind-Kacke wirtoch total überschätzt«, lallt Anoki nach dem vierten Jim Beam mit Cola. »Weißu was? Wahre Liebe gibs nur unter Brüdern.« Er nimmt mein Gesicht zwischen beide Hände und drückt mir einen feuchten, besoffenen Schmatzer auf die Nase, den ich bei jedem anderen angeekelt wegwischen würde. »Ich brauch auch nur ’n ganz klissekleines Ssimmerchen«, versichert er. Im Moment ist er in einer Stimmung, in der er aus lauter Dankbarkeit jedes beliebige Zugeständnis machen würde, und ich überlege fieberhaft, ob ich das für meine Zwecke ausnutzen soll, komme allerdings nicht richtig zu Wort. »Wirklich, nur ’n Abschlraum, mehr nich. Werd ja sowieso nich viel drin sein. Ich möcht immer lieber da sein, wo du bis, mein großer Bruder. ’mit ich ganz viel von dir lern kann.«
Uah, jetzt hör mal auf mit dem Gesülze, ist ja widerlich. Ich stehe auf und packe Jim Beam energisch am Hals.
»So, das genügt jetzt, Chéri. Sonst kotzt du mir gleich das Auto voll. Und ich weiß auch nicht, wie ich Papa erklären soll, dass du stockbesoffen nach Hause kommst.«
Anoki reißt die Augen auf in einem missglückten Versuch, den Unschuldigen zu spielen. »Chbinochnich besoffen!«
Nee, klar, kein bisschen. Seufzend stelle ich den Whisky in den ansonsten deprimierend leeren Kühlschrank. Das hier ist wahrscheinlich der Vorgeschmack auf mein künftiges Leben als Raubtierbändiger. So wird das bald öfter zugehen, womöglich täglich. Anoki betrunken, Anoki bekifft, Anoki aufsässig, Anoki niedergeschlagen, Anoki in Polizeigewahrsam, Anoki mit Schulverweis – die ganze bunte Palette, Tag für Tag. Und ich muss das ganz allein in den Griff kriegen. Ich, der ich nie Kinder wollte. Das hab ich nun davon.
Auf der Fahrt nach Neuruppin ist er wieder ganz still. Ich weiß warum, und er tut mir leid. Was erwartet ihn? Ein schmuddeliges, verwahrlostes Haus, ein kaum ansprechbarer Aushilfsvater, ein Kühlschrank voller Bierflaschen, ein Berg wieder mal vergessener Hausaufgaben und ein
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