Herzbesetzer (German Edition)
Verräter! Das wird er noch bereuen, einen Kuschelabend mit mir und Jim Beam gegen die alte Agatha zu tauschen! Ich könnte natürlich ein Veto einlegen, aber wann hätte ich meinem herzlosen Bruder je einen Wunsch abgeschlagen? Und dann ist es wahrscheinlich auch viel gesünder für ihn, ins Theater zu gehen, als sich mit mir zu besaufen.
»Ja, okay«, sage ich. »Seine Majestät haben ihre Bereitschaft signalisiert. Und ich bin ja sowieso Wachs in deinen Händen.« Meine Finanzkrise erwähne ich mit keinem Wort. Immerhin habe ich noch genügend Bargeld, um die Karten zu bezahlen, und den Rest der Woche kann ich ja von Anokis geklauten Chips leben.
Mein knuffiger Tiger legt neuerdings ein überraschendes Feingefühl an den Tag. Kaum habe ich das Gespräch beendet, sagt er: »Ach, Mist – jetzt bist du sauer, was? Du wolltest gar nicht ins Theater, stimmt’s? Scheiße. Tut mir leid. Ich hab nicht mehr an das Geld gedacht.« Er sieht zerknirscht aus, weshalb ich eilig abwiegele: »Nein, nein! Das ist schon okay! So teuer wird das schon nicht sein, und außerdem – ich weiß doch, wie gern du ins Theater gehst.« Ich bin vielleicht ein Trottel! Schließlich hätte ich Anokis Anfall von schlechtem Gewissen gnadenlos ausnutzen können! Ach, ich muss noch viel lernen bei der Verführung Minderjähriger.
Dieser abgedroschene Spruch von den strahlenden Augen, die Dank genug für alle möglichen Entbehrungen sind, bringt die Sache genau auf den Punkt. Anoki ist nach der Vorstellung wieder völlig entrückt, obwohl es nur ein ziemlich konventionelles Theaterstück war. Er hat ja einen ganz anderen Zugang zu allem, was mit der Bühne zusammenhängt, und es geht ihm nicht so sehr um die Inhalte, sondern um die Realisierung. Heute hat er wieder eine Menge dazugelernt und ist gesättigt mit neuen Anregungen. Und wenn sein Gehirn auf Hochtouren läuft, sieht er so sexy aus, dass ich alle Kraft aufwenden muss, um nicht gleich im Foyer über ihn herzufallen. Ich klammere mich an Judith wie an einen Rettungsring.
»Lass uns noch was trinken gehen«, schlägt sie vor. Im Kopf überschlage ich meine Bargeldbestände. Sicher reicht es noch für eine Runde Drinks, dank Anokis Zuschuss. Aber wäre es nicht klüger, das Geld für wirklich wichtige Dinge wie Lebensmittel oder Benzin aufzusparen? Nur – wie soll ich das Judith jetzt klarmachen, noch dazu in Gegenwart ihrer Freundin?
Marion hat schon ein Restaurant auf der anderen Straßenseite entdeckt, aus dessen Fenstern es heimelig golden nach draußen schimmert. »Das da sieht nett aus«, sagt sie begeistert, und wir folgen ihr wie eine Herde Schafe.
Marion ist komisch, ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Sie ist etwas älter als Judith, arbeitet im sozialen Bereich, ich glaube mit Kindern und Jugendlichen, und manche ihrer Überzeugungen sind sogar noch grüner als Judiths. Aber insgesamt redet sie wenig von sich, sondern scheint mehr eine Beobachterin zu sein, und das macht mich nervös. Es kommt mir so vor, als beobachte sie schwerpunktmäßig Anoki und mich, und dabei trägt sie so ein Mona-Lisa-Lächeln zur Schau, das mich verunsichert und ärgert. Hinzu kommt meine Panik, dass sie ihre wie auch immer gearteten Forschungsergebnisse bei nächster Gelegenheit mit Judith teilt.
»Sag mal, ist dir denn noch nie aufgefallen, dass dein Freund diesem kleinen Rumtreiber rettungslos verfallen ist? Das musst du doch bemerkt haben! Wie er ihn anhimmelt! Und wie lächerlich er sich abmüht, dem Kleinen zu gefallen!«
Vielleicht sollte ich Marion gleich anbieten, sie nach Hause zu fahren, und sie stattdessen irgendwo im Spreewald aussetzen, damit es nie dazu kommt. Zurzeit ist sie in ein intensives Gespräch mit Anoki vertieft, von dem ich leider kaum etwas mitbekomme, weil Judith währenddessen mit mir über das Theaterstück, Unas Vater und eine ihrer Kolleginnen plaudert. Ich kann unmöglich so unhöflich sein, ihr nicht zuzuhören, aber in Wirklichkeit interessiert mich viel mehr, was Marion da mit Anoki zu bequatschen hat. Vielleicht ist sie Spezialistin für missbrauchte Kinder und wendet gerade ihr Fachwissen auf ihn an.
»Und fasst er dich denn auch manchmal irgendwo an, wo du es nicht möchtest?«
Ich kriege einen trockenen Hals und muss mir – Kontosperre hin oder her – noch ein Bier bestellen. Erst danach fällt mir ein, dass wir mit dem Auto hier sind. Ich weiß nicht genau, ob zwei große Gläser Bier schon den gesetzlichen Rahmen der Fahrtüchtigkeit
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