Herzbesetzer (German Edition)
sprengen oder nicht. Genau genommen weiß ich ziemlich wenig genau, und ich spüre, wie ich wieder in so einen Strudel der Angst und Hilflosigkeit gerate, was mir in letzter Zeit öfter passiert.
Judith streichelt liebevoll meine Wange. »Schön, dass ihr mitgekommen seid«, sagt sie. »War ja ziemlich kurzfristig. Aber ich freu mich. Mit dir macht einfach alles viel mehr Spaß.« Sie lächelt mich verliebt an.
Ich gebe mir selbst einen gewaltigen Tritt in den Hintern und lächle zurück. »Ja, und ich freu mich, dass du angerufen hast. Ich glaub, das war doch schöner als ein Fernsehabend zu Hause.« Wie glanzvoll ich heucheln kann! Ist alles nur eine Frage der Übung. Dabei gibt es durchaus Anteile in mir, die es ernst meinen. Ich meine, es ist ja nicht so, als fände ich Judith zum Davonlaufen grässlich. Ganz im Gegenteil. Gerade heute sieht sie wirklich zum Anknabbern aus, weil sie sich entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten entschlossen hat, ihre weiblichen Reize mit einem engen, weit ausgeschnittenen Shirt etwas offensiver zur Geltung zu bringen. Gäbe es eine gewisse Konkurrenz nicht in meinem Leben, wäre ich ihr vermutlich bedingungslos ergeben, und es würde mich nicht wundern, wenn sie mich in ein, zwei Jahren zur Ehe überredet hätte. Sie hat alles, was ich mir wünschen kann. Was ich für sie empfinde, kommt Liebe so nah wie nur möglich. Es ist bloß fünf Buchstaben davon entfernt.
85
Auf dem Heimweg lässt meine Anspannung allmählich nach. Allein mit Anoki in der schummerigen Abgeschlossenheit meines Autos kann ja nicht viel Unerfreuliches passieren. Glaube ich jedenfalls. Stattdessen male ich mir aus, was wir alles Erfreuliches darin anstellen könnten. Wir warten gerade an einer roten Ampel, als Anoki plötzlich einen merkwürdigen Schrei ausstößt – einen solchen Laut habe ich noch nie gehört. Im selben Augenblick springt er aus dem Auto wie ein Irrsinniger und rennt davon. Als Erstes schießt mir die Befürchtung durch den Kopf, irgendwas von meinen Fantasien aus Versehen laut ausgesprochen zu haben, aber sonst ist Anoki ja auch nicht so heikel – im Gegenteil, er lässt selbst keine Gelegenheit aus, mich mit lasziven Andeutungen zu quälen. Dann halte ich hektisch nach einer Stelle Ausschau, wo ich mein Auto abstellen kann, um ihm hinterherzurennen, aber natürlich befinden wir uns gerade auf einer dreispurigen, verkehrsreichen Durchgangsstraße ohne Parkstreifen, und die Ampel ist längst auf Grün umgesprungen. Ich fahre notgedrungen los, krieche verkehrsbehindernd auf der rechten Spur entlang, suche meinen entsprungenen Tiger und gefährde mich und andere.
Dann sehe ich ihn. Er spurtet hinter einem Bus her, der gerade an einer Haltestelle zwei, drei Leute in sein Inneres aufnimmt und sogleich wieder losfährt. Anoki ist viel zu weit entfernt, um ihn erwischen zu können. Resigniert verlangsamt er sein Tempo und sinkt dann verzweifelt auf die Knie, den Kopf zwischen den Händen. Mein Gott! Was ist passiert? Was muss geschehen, damit ein ultracooler Vierzehnjähriger eine so exaltierte Geste der Aussichtslosigkeit macht? Es ist mir egal, was die Autofahrer hinter mir denken. Ich fahre so weit wie möglich rechts ran, schalte die Warnblinkanlage ein und springe aus meinem Fahrzeug, um diesem am Boden zerstörten Häufchen Elend beizustehen. Mit ein paar Schritten bin ich bei ihm und ziehe ihn vorsichtig auf die Beine. Er ist komplett aus der Fassung. Er weint und japst nach Luft. Ich drücke ihn an mich, streichle ihn, murmele Beschwörungsformeln in sein Ohr, ohne dass er sich spürbar beruhigt. Ehrlich gesagt habe ich die Befürchtung, dass er verrückt geworden sein könnte. Ich meine, weil er doch so viel kifft. Wäre ja kein Wunder, oder? Aber nach ein paar schlimmen Minuten fängt er an zu stammeln: »Das war meine Mutter! Meine Mutter!«
Ich führe ihn langsam zurück zum Auto und setze ihn so vorsichtig hinein, wie Polizisten das in Fernsehkrimis immer mit Tatverdächtigen machen, bloß dass ich ihm nicht die Hand auf den Kopf lege. Dann setze ich mich wieder hinters Steuer, aber ich fahre nicht los, sondern nehme mein schluchzendes, aufgelöstes Händchen voll Bruder erneut in die Arme.
»Bist du sicher? Du meinst, du hast wirklich deine Mutter gesehen?«
Er nickt heulend. »Kannst du dem Bus hinterherfahren? Bitte!«, fleht er. Na gut – ich kann’s versuchen, aber er hat ziemlich viel Vorsprung. Drei Kilometer weiter müssen wir einsehen, dass wir ihn verloren
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