Herzbesetzer (German Edition)
Eigentlich wollte ich nur ein bisschen rumsurfen, auf der Suche nach weiteren kostenfreien Freizeitaktivitäten, mit denen ich diesen hinreißenden Ausdruck der Befriedigung auf Anokis niedliches Gesichtchen zaubern kann. Aber dann spielen sie im Radio einen Song, in dem es um eine abgehauene Frau geht, der der Sänger halb verzweifelt, halb wütend hinterhertrauert, und schon brodelt der Schmerz wieder in mir hoch.
Ich rufe meine Fotodateien auf und fange an, sämtliche Bilder meiner Mutter aus den letzten drei Jahren zu betrachten, und zwar in streng chronologischer Reihenfolge. Als könnte ich daran ablesen, was in ihr vorgegangen ist. Oder wann alles anfing. War das schon vor Anokis Zeit? War Anoki nur ein letzter Versuch, wieder Spannung und Freude in ihr Leben zu bringen? Wäre sie auch gegangen, wenn Anoki nicht zu uns gekommen wäre? Oder war er – ein deprimierender Gedanke – wirklich der Auslöser? Hat er ihre ohnehin schleifenden Nerven so ruiniert, dass sie es nicht mehr aushalten konnte, in seiner Nähe zu leben? War er eine Enttäuschung? Eine Niete? Ein Griff ins Klo?
O Gott, ich kann diese Überlegungen nicht ertragen, ohne dass mir die Tränen in die Augen schießen. Da ich Peinlichkeiten wohl anziehe wie ein Magnet, passiert es also, dass Anoki energiesprühend und mit einem Rucksack voller Beute hereinplatzt und mich mit roter Nase und schniefend vor dem Laptop vorfindet, wo ich Bilder meiner Mutter betrachte.
Er bleibt erschrocken stehen und lässt den Rucksack krachend zu Boden fallen. »Juli?«, fiept er entsetzt.
Ich putze mir hastig die Nase und simuliere ein Grinsen, während ich gleichzeitig mit einem Mausklick den Fotoordner schließe. »Na, Brüderchen? Schon wieder nicht erwischt worden?«, sage ich bemüht heiter.
Anoki lässt sich nicht täuschen. Ich bin nicht so gut wie er. Genau genommen bin ich ein lausiger Schauspieler. »Was hast du denn?«, fragt er mit vor Schreck geweiteten Augen. Seine Reaktion fängt an, mich zu beunruhigen. Kann es sein, dass ich gerade von einem Sockel gestürzt bin? Kann es sein, dass sein letzter Halt, seine letzte Sicherheit gerade in Scherben zerspringt?
Plötzlich kreist flüssiger Stahl durch meine Adern. Ich stehe auf, bringe ein echt zuversichtliches Lächeln zustande und sage leichthin: »Gar nichts. Einen Schnupfen, glaub ich. Hast du gedacht, ich sitze da und heule?« Ich lache, als sei das die absurdeste Vorstellung der Welt.
Anoki sieht mich unsicher an; er ist noch nicht überzeugt.
Also mache ich weiter und hebe seinen Rucksack auf. »Wo warst du denn, Tigerchen? Hab dich vermisst.«
Anoki zeigt ein erstes schwankendes Lächeln. »Vorräte klauen«, erklärt er, was vermutlich hundert Prozent ernst gemeint ist. Er nimmt den Rucksack entgegen, schnürt ihn auf und holt eine Flasche Jim Beam, eine Flasche Absolut Vodka und sechs Dosen Red Bull heraus, außerdem zwei Dosen Pringles, eine Dose Erdnüsse und eine Schachtel Toffifee.
»Anoki«, sage ich halb verzweifelt, halb resigniert, »dafür müsste ich dich übers Knie legen.«
Zu meinem Entzücken strahlt er mich daraufhin erwartungsvoll an und fragt: »Mit Hose runter?«
84
Alles spricht also für einen stimmungsvollen Abend daheim. Aber dann ruft Judith an und fragt: »Na, ihr zwei, habt ihr schon was vor?«
Ich gebe zu, dass ich sie während der letzten Stunden komplett vergessen hatte. »Och, äh, na ja«, sage ich dümmlich. »Wir haben so was wie einen Fernsehabend geplant.« Nur ohne Fernsehen – hoffe ich. Anoki stopft mir ein Toffifee in den Mund, ich kaue gehorsam.
»Na, hör mal, so alt seid ihr doch noch gar nicht«, witzelt Judith und trifft dabei ungewollt genau meinen wundesten Punkt. »Würdet ihr nicht lieber mit Marion und mir ins Theater gehen? Wir könnten noch etwas männliche Begleitung gebrauchen.«
Ich forme in Anokis Richtung das Wort »Theater« mit den Lippen, und er hält mit seiner Fütterung inne und sieht interessiert aus.
»Tja, ich weiß nicht …«, sage ich. Es gibt zwei entscheidende Gründe, die dagegensprechen: Anoki und das Geld. Aber Grund eins scheint sich gerade als empörend illoyal zu erweisen.
»Was wird denn gespielt?«, fragt er.
Judith hat ihn gehört und erwidert: »Aha, das ist die richtige Einstellung! Also, es ist nichts besonders Hochgeistiges. Ein Agatha-Christie-Stück. Aber bestimmt sehr unterhaltsam.«
Ich wende mich Anoki zu und sage: »Ein Krimi von Agatha Christie.«
Er zögert kurz, dann nickt er.
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