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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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Anoki fragt mich ein bisschen aus – über meine Freundin, wo genau ich wohne, was für Fotos ich mache und so weiter. Dann bin ich an der Reihe. Ich erkundige mich, wie der Abschied von seiner Schulklasse war.
    »Na ja«, sagt er. »Ich war ja nur ganz kurz auf der Schule.«
    »Und im Heim? Da hattest du aber doch bestimmt ein paar Freunde.«
    Er zuckt die Schultern. Im Bemühen, ihn aufzumuntern, sage ich: »Jetzt fängst du ja hier ein ganz neues Leben an, sozusagen. So richtig mit Vater und Mutter. Sag mal – wie nennst du eigentlich meine Eltern? Doch nicht Papa und Mama, oder?«
    Er schüttelt den Kopf. »Nee. Dirk und Petra.« Nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: »Ich hab meine richtigen Eltern auch beim Vornamen genannt.«
    Das überrascht mich nicht besonders. »Hast du nicht irgendwelche Bilder von denen?«, frage ich, weil ich gern wüsste, ob sie auch so ausgeflippt aussahen wie er. Er guckt mich an, als wäre ich schwachsinnig.
    »Ja, klar«, sagt er zynisch. »Ich nehm immer zwei, drei Fotoalben mit, wenn ich an ’ner Autobahnraststätte pissen gehe.«
    Ach, verdammt! Was bin ich für ein Idiot! Erst in diesem Moment wird mir klar, dass Anoki von einem Augenblick auf den anderen komplett ohne alles dagestanden haben muss. Abgesehen von ein paar anarchistischen Klamotten auf seinem Körper vielleicht.
    Ich lege ihm kurz die Hand auf den Rücken, um so etwas wie »Sorry, war eine blöde Frage, und es tut mir leid, was mit dir passiert ist« zu kommunizieren. »Dann beschreib sie doch mal«, schlage ich vor. Nette kleine Deutschunterricht-Aufgabe, mal sehen, wie er sie meistert.
    »Hmmm …« Er guckt in den Himmel, als könnte er sie da oben sehen, und sagt dann: »Also, meine Mutter, die ist ziemlich klein und zierlich und hat lange schwarze Haare und braune Augen und trägt fast immer lange Röcke oder Kleider und ist total hübsch. Und mein Vater ist über eins neunzig, dunkelblond und hat auch Dreads und meistens ’n Pferdeschwanz. Graue Augen, mit so paar Lachfältchen.«
    Die Beschreibung war gar nicht übel, ich sehe die beiden regelrecht vor mir. »Okay«, sage ich. »Sollte ich sie jemals irgendwo sehen, schlag ich sie erst mal alle beide zusammen, weil sie dich so verarscht haben. Und dann sag ich ihnen, wo sie dich abholen können.«
    Die Bewegung an der frischen Luft tut mir gut, ich fühle mich ein bisschen besser. Nicht mehr so gereizt und überspannt wie gestern Abend. Ich bin froh, dass ich die nächsten Tage Urlaub habe, selbst wenn das bedeutet, dass ich sie mit meinen Eltern und ihrem Kuschelkätzchen verbringen muss. Jetzt müssen wir nur noch das Heiligabend-Schauspiel hinter uns bringen. Natürlich ist es so, dass Benjamin bei solchen traditionell familiären Anlässen noch schlimmer fehlt als sonst. Das ist, als wäre ein Loch im Raum, an der Stelle, wo er eigentlich sein sollte. Und wenn man diesem Loch zu nahe kommt, wird man reingesaugt und geschnetzelt. Aber als Anoki und ich nach Hause kommen, uns den Schnee von den Stiefeln stampfen und die Jacken an die Garderobe hängen, fühle ich mich einigermaßen gewappnet.
    Meine Mutter kommt in den Flur und sagt: »Wollt ihr was Heißes trinken? Ihr müsst ja total durchgefroren sein«, was natürlich Blödsinn ist, denn wenn man über zwei Stunden draußen rummarschiert ist, fühlt man sich im Gegenteil wunderbar durchwärmt, aber aus Höflichkeit stimmen wir ihr zu und lassen sie einen Glühwein ansetzen. Für Anoki hat sie einen Kinderpunsch ohne Alkohol gekauft. Ich wechsle einen Blick mit ihm, registriere stummes Einverständnis und tausche unbemerkt seinen Becher gegen einen mit echtem Glühwein aus, den er mit wortlosem Dank aus meiner Hand entgegennimmt.
    Ins Wohnzimmer dürfen wir nicht, da drin laufen noch die Aufbauarbeiten des Weihnachtsmanns, aber wir können uns mit unserem Glühwein nach oben verdrücken. Ohne zu fragen folgt Anoki mir in Benjamins Zimmer, wo wir uns alle beide aufs Bett setzen, an die Wand gelehnt und die Beine hochgelegt. Noch vor ein paar Stunden hätte ich ihn mit einer gezielt vernichtenden Bemerkung rausgeschmissen, aber jetzt stört mich seine Anhänglichkeit nicht mehr so sehr. Oder sagen wir mal: eigentlich ist es ganz schön, nicht allein sein zu müssen.

 
 
12
    Anoki bläst vorsichtig auf seinen Glühwein und fragt: »Wie läuft das bei euch ab, Weihnachten? Muss ich irgendwas Bestimmtes machen? Ein Gedicht aufsagen oder so?« Das kommt ein bisschen scherzhaft, aber mir ist klar,

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