Herzbesetzer (German Edition)
anständig, um mir die Pistole auf die Brust zu setzen, aber die wenigen Sätze, die sie an jenem Abend in ihrer Küche zu mir gesagt hat, stecken wie Pfeile mit Widerhaken in meinem Fleisch. Und das Schlimme ist: Sie hat recht. Ich mache mich zum Volltrottel, ich renne einem ebenso unerreichbaren wie verabscheuungswürdigen Ziel hinterher, ich vernachlässige mein Leben, meine übrigen Beziehungen, sogar meine Arbeit, ich versinke bis zum Haaransatz im Schuldensumpf, ich habe keine sinnvollen Pläne mehr für meine Zukunft, und ich benehme mich immer weniger wie ein Erwachsener.
Als ich am Montag von der Arbeit nach Hause komme, nehme ich als Erstes alle Anoki-Fotos von der Wand. Ich hänge einige Bilder von Judith auf, ein paar schöne Landschaftsaufnahmen und nur eine einzige Fotografie, auf der Anoki zu sehen ist – allerdings gemeinsam mit Una und Judith bei unserem Ausflug auf den Trödelmarkt. Danach räume ich alles in den Schrank, was er wie Duftmarken in meiner Wohnung verteilt hat: den Becher mit seiner Zahnbürste, sein Vegetable Oil Shampoo und das Bienenwachs, das er sich aus irgendwelchen Gründen in die Haare schmiert, das Weizenbierglas, das er mal bei Zenner geklaut hat, den Aschenbecher, die Zigarettenpapierchen, die Boxershorts, T-Shirts und Socken, die im Laufe der Monate bei mir zurückgeblieben sind, die Szenezeitschriften und Gratispostkarten, die er stapelweise aus jeder Kneipe schleppt, das Mathebuch, das er vor Wochen bei mir vergessen und offenbar bis heute nicht vermisst hat, die garantiert geklaute Flasche Aramis Havana for men … und nach einigem Zögern sogar sein rot-schwarzes Palästinensertuch, in das ich allabendlich meine Nase vergrabe, seit er es mal aus Versehen an meiner Garderobe hat hängen lassen. Er weiß nicht, dass ich es habe. Ich habe es behalten, weil es nach ihm duftet und weil ich nicht mehr einschlafen kann, wenn es nicht neben mir auf dem Kissen liegt. Aber jetzt stopfe ich es zu den anderen Sachen in den Schrank und knalle heftig die Tür zu, um mein eigenes gequältes Wimmern zu übertönen. Danach sieht meine Wohnung merkwürdig aufgeräumt und steril aus. Ich lasse mich auf die Couch fallen und fühle, wie etwas von hinten gegen meine Augäpfel drückt.
Ich halte es keine fünf Minuten allein in dieser mentalen Wüste aus. Zuerst rufe ich Judith an, aber nach dem sechsten Klingeln fällt mir ein, dass sie heute Abend mit Una beim Kieferorthopäden ist. Dann wähle ich Toms Nummer, und er geht auch ran, ist aber gerade auf dem Weg zu einer Probe mit seiner Band. Annalisa und Silvio sind auf Teneriffa, und auf Olaf hab ich jetzt keine Lust. Ein paar Sekunden schwebt mein Finger über der Anrufen-Taste, als Janines Name in meinem Telefonverzeichnis markiert ist. Dann fällt mir ein, dass ich doch erwachsen, verantwortungsbewusst und selbstbestimmt werden wollte, und ich lege das Handy auf den Tisch, greife mir ein Buch aus dem Regal und liefere eine Parodie des Lesens ab. Gegen halb zehn ruft Anoki an. Mein Magen verkrampft sich, als ich seinen Namen auf dem Display lese. Hätte ich seine Nummer löschen sollen?
»Ich wollte gerade ins Bett gehen«, lüge ich. Das stört ihn nicht besonders. Er erzählt mir wie jeden Abend einen Großteil dessen, was er heute getan, nicht getan, gedacht, gesagt, gehört, vergessen, genossen und verabscheut hat. Mitten in einem dieser zahllosen Sätze hält er inne und schweigt für zwei, drei Sekunden. Ich schweige ebenfalls.
»Juli«, sagt er dann mit einer Stimme, die so klein ist, dass sie mir Gänsehaut verursacht, »bist du sauer auf mich?«
Ich knirsche vor Anstrengung mit den Zähnen. »Unsinn«, erwidere ich, und auch meine eigene Stimme lässt mir einen Kälteschauer über den Rücken laufen, »wie kommst du denn darauf?«
Nach einer neuerlichen Pause sagt Anoki: »Was ist passiert? Geht’s dir nicht gut? Juli?« Er klingt besorgt und verwirrt. »Soll ich zu dir kommen? Hast du irgendwas?«
»Nein!«, schreie ich unangemessen laut, dann beherrsche ich mich wieder. »Was soll denn sein? Alles bestens.«
Er schweigt. Ich höre nur seinen Atem, der mir ein bisschen unregelmäßig vorkommt. Dann legt er ohne ein weiteres Wort auf.
Ich gehe ins Bad, ziehe mich aus, putze mir die Zähne und nehme zwei Valium. Ich lege mich ins Bett und krümme mich vor Verzweiflung. Um zwanzig vor drei hole ich Anokis Pali aus dem Schrank und nehme es mit ins Bett. Ich umklammere es so fest, dass meine Hände schmerzen, und
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