Herzbesetzer (German Edition)
sprachlos. Mein erster Impuls ist, energisch zu protestieren, aber – vielleicht hat er ja recht? Ich weiß nicht, ich hab noch nicht darüber nachgedacht. Das hole ich in aller Eile nach und komme zu einem anderen Ergebnis. »Das ist nicht wahr«, sage ich. »Ich hab bloß Angst, dass du enttäuscht wirst.«
Anoki wendet den Blick von der Schwärze hinter der Scheibe in meine Richtung und sieht mich an, forschend, als könne er meinem Gesicht ablesen, ob ich die Wahrheit sage. Dann guckt er wieder raus.
Auf dem nächsten U-Bahnhof steht ein Zwei-Meter-Kerl mit einer BVG-Uniform, und ich sage zu Anoki: »Gib mir mal mein Ticket, ich glaub, da kommt ein Kontrolleur.« Da ich vollkommen abgebrannt bin, hat Anoki die Fahrtkosten übernommen. Aber er reckt nur den Hals: »Wo? Wo denn?« Er wirkt eigentümlich nervös.
»Na da! Komm, jetzt gib her!«
Anoki hat den Uniformierten entdeckt, der in einen anderen Wagon einsteigt, und lächelt entspannt. »Das ist keiner.«
Ich frage mich, woher er das wissen will. Vielleicht hat er sie im Laufe seiner Karriere alle persönlich kennengelernt. »Egal, gib mir trotzdem mal mein Ticket!«, beharre ich.
Anoki lacht. »Glaubst du echt, ich stopf vier Euro zwanzig in diesen Automaten rein, bloß für zwei wertlose Fetzen Papier? Hältst du mich für bescheuert?«
O verdammt! Ich hätte es wissen müssen! Mir bricht der Schweiß aus – ich bin kein besonders talentierter Verbrecher, ganz im Gegensatz zu meinem komplett gewissenlosen Bruder. Und jetzt zieht er mich mit in seinen illegalen Sumpf! »Du krimineller kleiner Scheißer!«, zische ich in einer fatalen Mischung aus Angst und Wut. »Glaub bloß nicht, dass ich dir jemals wieder vertraue, egal bei was! Du bist ja echt total hirntot! Stell dir vor, wir werden erwischt – was machst du dann? Zahlst du die achtzig Euro?«
»Ja klar«, sagt Anoki erstaunt, als frage er sich, warum ich so einen Affentanz veranstalte. »Da gibt’s sogar so ’ne Forschungen drüber, dass man nicht billiger fahren kann! Weißt du überhaupt, wie selten die hier kontrollieren?«
Nein, und ich will es auch gar nicht wissen. Ich will bloß so schnell wie möglich aus dieser U-Bahn raus und wieder normal atmen.
Judiths Anblick erfüllt mich wie immer mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Sie ist so beruhigend normal, genau wie meine Beziehung zu ihr, sie ist hübsch, ohne dass die halbe Welt sich glotzend nach ihr umdreht, sie käme nie auf die Idee, ohne Fahrschein ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, und sie liebt mich. Außerdem hat sie schon wieder etwas Herrliches gekocht. Ich dränge mich hungrig in ihre gemütliche Wohnung und arbeite mich zielstrebig in die Küche vor, um die Deckel von den Töpfen zu heben. Judith folgt mir und gibt mir einen Klaps auf die Finger, als sei ich ein unartiger Junge.
»Du musst schon warten, bis es fertig ist«, sagt sie mit ihrem wunderbaren, liebevollen, alles verzeihenden Lächeln. Ich ziehe sie an mich und stille den gröbsten Hunger an ihren Lippen, bis sie sich behutsam aus meiner Umarmung windet: »Aber angebrannt schmeckt es auch nicht, Schatz.«
Außerdem, so bemerke ich erst jetzt, steht Anoki im Türrahmen, beobachtet uns aus schmalen Augen und verbreitet eine Vorahnung von Terror. Nachdem er mir Zeit gegeben hat, seinen Blick aufzufangen, dreht er sich abrupt um und verschwindet in Unas Zimmer.
»Wird Zeit, dass du ihm mal die Hierarchie aufzeigst«, sagt Judith ohne jeden Vorwurf.
»Ähm, ja, stimmt«, brabbele ich blöde. Anoki kennt die Hierarchie – es ist Judith, die sie noch nicht erfasst hat. »Er, äh, ist in letzter Zeit so, äh, ich weiß nicht. Durch den Wind. Es ist ein bisschen zu viel passiert.«
Judith wirft mir einen scharfen Blick zu, und ich halte vor Schreck die Luft an, bis ihr übliches Lächeln erscheint.
»Natürlich«, sagt sie sanftmütig. »Er braucht mit Sicherheit im Moment besonders viel Liebe.«
Ich grinse wie ein Idiot vor Erleichterung und nicke viel zu heftig. »Das ist so was wie Verlustangst«, erkläre ich überflüssigerweise.
Judith macht sich an ihrem Backofen zu schaffen, und als sie sich umdreht, blickt sie mir gerade, fest und ohne jedes Lächeln ins Gesicht, was mich erneut vor Entsetzen erstarren lässt.
»Ja, ich weiß«, sagt sie so frostig, wie ich sie noch nie habe sprechen hören, »aber du musst dich jetzt mal langsam entscheiden.«
Ich traue mich nicht, sie zu fragen, was sie damit meint.
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Judith ist viel zu
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