Herzbesetzer (German Edition)
sogar Glasscherben essen. Mein Vater starrt uns ratlos an, stellt aber, vermutlich um seine geistige Gesundheit nicht zu gefährden, keine weiteren Fragen. Ich habe ihm gesagt, Anoki und ich hätten uns am Telefon gestritten, und ich sei hergekommen, um ein Missverständnis aufzuklären, was ja nicht weit von der Wahrheit entfernt ist. Anoki sagt gar nichts, lässt mich jedoch keine Sekunde aus den Augen, als wolle er sich vergewissern, dass ich mich nicht plötzlich unerlaubt in Luft auflöse. Und ich signalisiere ihm unaufhörlich mit meinen Blicken, dass er mir alles bedeutet. Und das ist mir ernst.
Ich fahre Anoki zur Schule. Unterwegs frage ich: »Was hättest du gemacht, wenn ich nicht gekommen wäre?«
»Schlaftabletten«, sagt Anoki nüchtern.
Ich starre ihn entsetzt an. »Was? Ist das dein Ernst?«
»Guck nach vorne«, befiehlt Anoki, » jetzt will ich ja nicht mehr sterben.«
Ich bin aufgewühlt und verwirrt, gehorche aber. Dann sagt er: »Obwohl – fahr mal rechts ran.« Ich wage keinen Widerspruch und bringe mein Auto am Straßenrand zum Stehen.
»So«, sagt Anoki und setzt sich aufrecht hin, »ich will jetzt, dass du mir schwörst, mich nie im Stich zu lassen.«
Beinahe fange ich an zu lachen. Was ist das denn? Ein Anfall von akutem Größenwahn? Oder will er meinen Sinn für Humor auf die Probe stellen?
»Na gut«, sage ich, »nimm die Schlaftabletten.«
Anoki verschränkt die Arme vor der Brust und zieht die Augenbrauen zusammen. Ups – ich glaube, das war doch kein Witz.
»Tschuldigung«, flüstere ich hastig. Ich habe einen Kloß im Hals. So was Pathetisches kann ich doch jetzt nicht sagen! Was verlangt er da von mir? Außerdem, hab ich ihm nicht erst am Freitag im Cannabisrausch ewige Treue versprochen? Beim Gedanken daran, wie lange mein Gelübde vorgehalten hat, erröte ich leicht.
Anoki sieht mich abwartend und herausfordernd an. »Schwöre«, wiederholt er unerbittlich.
»Anoki …«, fange ich an. »Das ist doch … Findest du das nicht ein bisschen … übertrieben?«
Seine Augen werden schmal. »Ach so. Na gut. Dann fahr weiter.« Er guckt stur nach vorne. Ich winde mich auf meinem Sitz. »Nee, jetzt warte doch mal … Also, ich will natürlich … ich will ja nicht …«
»Du willst natürlich nicht noch ’n Bruder auf’m Gewissen haben«, unterbricht er mich schnippisch, »aber Verantwortung übernehmen willst du auch nicht. Also leck mich am Arsch und fahr weiter.«
Wow, er meint das wirklich ernst. Ich bin gegen meinen Willen beeindruckt, aber trotzdem erliege ich meinem zwanghaften Hang zum Kalauer. »Gut«, sage ich, »ja, gerne …« Und zu meiner grenzenlosen Verblüffung verpasst Anoki mir eine echte, klatschende, wenn auch nicht allzu schmerzhafte Ohrfeige. Ich ziehe ungläubig die Augenbrauen hoch.
»Du bist ’n Arschloch«, giftet mein temperamentvoller kleiner Bruder, »und ’ne perverse Schwuchtel und ’n total blöder hmpf…« So, das genügt. Beim letzten Mal hab ich noch Rücksicht genommen, aber diesen Kuss hat er jetzt wirklich verdient. Wenn er mich derart reizt, muss er eben mit den Konsequenzen leben. Es ist nicht mal ein richtiger Hardcorekuss, mehr eine Vorstufe davon, aber ich bringe ihn damit zum Schweigen. Und auch als ich seine Lippen (widerwillig) wieder freigebe, sagt er nichts, sondern guckt mich nur mit großen Augen an. »Jetzt sind wir quitt«, sage ich. »Und nenn mich nicht noch mal Schwuchtel, du Hühnerficker.«
In seinem Mundwinkel erscheint die erste Andeutung eines Lächelns. Ich starte den Wagen und lege den ersten Gang ein, aber bevor ich Gas gebe, wende ich mich meinem bezaubernd still gewordenen Brüderchen noch einmal zu und sage: »Ach so, und was diese andere Sache angeht: Natürlich lass ich dich nie im Stich, du Arsch. Das ist doch wohl klar.«
Ich fahre von der Schule noch mal nach Hause. Mein Vater ist bereits weg, und ich achte sorgfältig darauf, nicht wieder die Alarmanlage auszulösen. Ich gehe hoch in Anokis Zimmer. Lange muss ich nicht suchen, denn er hat die Schlaftabletten schon auf seinem Schreibtisch bereitgelegt: zwei Schachteln Stilnox. Auf meinem Körper stellen sich sämtliche Härchen auf, als ich die Pillen in meine Hosentaschen stopfe, um sie später irgendwo zu entsorgen, und ich kämpfe gegen einen Würgereiz. Ich weiß, dass Anoki sich jederzeit neue besorgen kann – so wie er sich diese besorgt hat, obwohl sie rezeptpflichtig sind. Aber es ist ganz bestimmt besser, wenn sie bei seiner Heimkehr
Weitere Kostenlose Bücher