Herzbesetzer (German Edition)
aus der Schule nicht mehr in seinem Blickfeld auftauchen.
Beim Verlassen seines Zimmers frage ich mich, worauf er wohl noch gewartet hat. Nach unserem entsetzlichen Telefongespräch, an das ich mich nach Möglichkeit nie mehr erinnern möchte, hätte er sofort anfangen können, die ersten Tabletten durch die Folie zu drücken. Hat er gewusst, dass ich kommen würde? Hat er mir noch eine Chance gegeben? Gerade als ich wieder ins Auto steigen will, um endlich zur Arbeit zu fahren, bekomme ich eine SMS: »mach das blos Nich nochmal sontz zeig dich an!!kann Ich dan Mit in deine zelle? J hdgdl«
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Noch am selben Abend räume ich Anokis Besitztümer wieder aus dem Schrank und stelle alles zurück an seinen Platz. Nur die Bilder lasse ich, wie sie sind. Dann rufe ich Judith an und frage sie, ob sie Lust hat vorbeizukommen. Die veränderte Galerie ist das Erste, was ihr auffällt. Schweigend betrachtet sie die neuen Fotografien an meiner Wand.
»Ist irgendwas passiert?«, fragt sie dann. »Hast du Krach mit deinem Bruder?« Ihr Ton ist heiter, aber die Frage trifft mich trotzdem. Ich hatte nicht vorgehabt, ihr zu erzählen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen ist, aber jetzt spüre ich, dass ich einfach darüber reden muss , sonst werde ich verrückt. Keine Ahnung, ob es klug ist, ausgerechnet bei Judith zu beichten – immerhin war sie der Auslöser für die ganze Misere. Nachdem ich angefangen habe, kann ich mich nicht mehr bremsen und gestehe weit mehr, als ich müsste. Mit anderen Worten: Ich sage ihr auch, dass Anoki einen unwiderstehlichen Reiz auf mich ausübt und wie schwer es mir fällt, dagegen anzukämpfen.
Judith unterbricht mich kein einziges Mal. Sie sitzt mir gegenüber auf dem Sessel, meistens schaut sie mich an, manchmal wendet sie den Blick zum Fenster. Nachdem ich fertig bin mit meiner Beichte, wird mir bewusst, was ich ihr zumute, und ich würde am liebsten alles wieder zurücknehmen. Ich richte mich innerlich darauf ein, dass ich sie verlieren werde, und bin erschrocken über den heftigen Schmerz, den diese Gewissheit in mir auslöst. Was ist eigentlich mit mir los? Welcher destruktive Wahn hat mich erfasst, dass ich jeden Abend etwas anders kaputtmache? Die Panik, die in mir hochsteigt, ist fast genauso groß wie die von gestern.
»Also, so richtig überrascht bin ich nicht«, sagt Judith schließlich. »Ich hab mir schon so was gedacht. Wie du Anoki immer anguckst und so … Aber ich hab mir immer eingeredet, es hätte nur was mit deinem verlorenen Bruder zu tun.«
Keine besonders ermutigende Einleitung. Die logische Fortsetzung wäre jetzt, dass sie aufsteht und sagt: »Tja, schade«, und dann geht sie – für immer. Aber Judith bleibt sitzen und fragt: »Was genau hab ich denn jetzt für eine Funktion in deinem Leben?« Dabei sieht sie so ängstlich, unsicher und traurig aus, dass eine gewaltige Flutwelle von Liebe in mir emporsteigt. Ich gehe zu ihr rüber, ziehe sie aus dem Sessel hoch, umarme sie ganz fest und halte sie minutenlang im Arm.
»Meine Geliebte?«, schlage ich dann vor.
Sie macht sich vorsichtig von mir frei, um mir ins Gesicht zu sehen.
»Und Anoki?« Ich denke nach. »Mein platonisch geliebter Bruder«, erkläre ich dann. »Ich glaub, ich kann das trennen.«
Sie schaut wieder zum Fenster. »Ich weiß aber nicht, ob ich das kann«, sagt sie mutlos.
Um Zeit zu gewinnen, mache ich uns Kaffee. Ich klappere etwas länger als nötig in der Küche herum, dann komme ich mit einem Tablett ins Wohnzimmer zurück. Judith sitzt jetzt auf der Couch. Ich rücke ganz dicht an sie ran und ziehe sie an mich.
»Ich wollte ja eine Entscheidung treffen«, erkläre ich, »deshalb ist der ganze Mist ja überhaupt erst passiert. Aber das geht irgendwie nicht. Ich kann Anoki nicht einfach abschießen. Er hat nur mich, er ist auf mich angewiesen.« Ich denke mit einem Schaudern an die Schlaftabletten, die ich während der Mittagspause in einem Müllcontainer des Möbelhauses versenkt habe.
»Ja, und eigentlich willst du ja auch nicht«, fügt Judith hellsichtig hinzu. Da ich nicht widerspreche, fährt sie fort: »Dann ist aber doch einer von uns immer zweite Wahl.«
»Nein. Das ist anders. Ihr seid überhaupt keine Konkurrenz«, behaupte ich, auch wenn das nur zum Teil stimmt – aber irgendwas muss ich ja sagen. »Deswegen wäre es auch Quatsch, wenn ich mich für oder gegen etwas entscheide, verstehst du?« Während ich rede, erwärme ich mich zunehmend für meine
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