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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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schlafe ein in der trostlosen Gewissheit, dass ich ein Feigling, ein Versager und ein erbärmlicher Schwächling bin.
    Noch bevor mein Wecker klingelt, reißt mich der SMS-Ton meines Handys aus einem endlosen Verfolgungstraum. Schlaftrunken lese ich: »was hb ich falsch gemcht du bis Sauer aufmich das merk ichdoch sag wengstens was Los ist.ich konnte nich schlaf ich hab dich LIEb« Einige Minuten grüble ich über die drei unerwarteten Versalien am Ende der Nachricht nach, dann rufe ich Anoki an. Er geht ran, noch ehe ich ein Freizeichen gehört habe, sagt jedoch kein Wort.
    »Du hast nichts falsch gemacht«, murmele ich, weil ich noch zu müde bin, um artikuliert zu sprechen. »Ich hab bloß … Ich muss irgendwie … Ich will … Das geht nicht … Wir müssen …« Oh, na toll. Was mache ich eigentlich hier? Anokis Atem klingt, als unterdrücke er ein Schluchzen.
    »Anoki!«, rufe ich gequält. »Das hat doch nichts mit dir zu tun!«
    »Was?«, fragt er gepresst. Scheiße, verdammte! Wie soll ich ihm das erklären? Ich hole tief Luft und setze neu an.
    »Ich hab mein Leben ein bisschen sortiert«, behaupte ich. In Wirklichkeit habe ich bloß seine Sachen in den Schrank gestopft.
    »Ach so«, sagt Anoki tonlos. »Du hast mich aussortiert.«
    Ich zögere ein bisschen zu lang mit meinem Widerspruch, und dann klingt er ein bisschen zu lahm – »Nee, Quatsch«. Ich weiß nicht weiter.
    Habe ich wirklich geglaubt, ich könnte Anoki in den Schrank räumen, und alles wäre gut? Damit habe ich meine Unreife erst richtig bewiesen, anstatt sie zu überwinden. Herrgott, bin ich ein Schwachkopf! Anoki sollte sich besser einen anderen Bruder suchen, einen, der ihm den Halt, den Schutz, das Vertrauen und die Sicherheit bieten kann, die er braucht, nach all den Nackenschlägen, die er kassieren musste. Was will er mit mir?! Ich bin nur ein jämmerlicher, schamloser Triebtäter.
    »Ich bin nicht … Ich kann dir nicht helfen«, stammele ich, von Selbstekel überwältigt.
    »Hab schon verstanden«, entgegnet Anoki kaum hörbar.
    »Nein! Nicht so – ich meine, ich kann nicht … ich bin nicht gut für dich!«, versuche ich mich zu korrigieren, aber es kommt nur ein frostiges Piepen aus meinem Handy, und das Display teilt mir mit: »Teilnehmer hat aufgelegt«.

 
 
95
    Wie zäh Anoki auch sein mag – diesen finalen Todesstoß kann er nicht überstehen. Ich habe ihm gerade den Boden unter den Füßen weggerissen und seine Zukunft in ein schwarzes Loch verwandelt. Wenn er jetzt nicht irgendetwas Drastisches tut, ist er kein Mensch, sondern eine Maschine. Ich weiß, er hat diese erstaunliche Fähigkeit, sich nach jedem Hieb wieder aufzurappeln und mit einem tapferen Lächeln von vorne zu beginnen, aber das hier war definitiv zu viel. Und natürlich ist das meine Schuld. Ich bin doch Spezialist für Brudermorde. Ungeduscht, unrasiert, nüchtern, vom Valium noch benommen und trotzdem vor Panik komplett aufgelöst rase ich über die Autobahn in Richtung Neuruppin. Ich trete das Gaspedal fast durchs Bodenblech und würde mir wenn nötig mit einer Panzerfaust die Fahrbahn freiballern. Zum Glück ist so früh morgens noch nicht viel los, weshalb ich meinen eigenen Rekord breche und um sechs Uhr siebzehn mit einem filmreifen Bremsenquietschen vor meinem Elternhaus zum Stehen komme. Ich falle fast aus dem Auto, schiebe mit zitternder Hand den Schlüssel in die Haustür, werfe mich ungeduldig mit der Schulter dagegen – und löse den Alarm aus. Ein markerschütterndes Jaulen reißt die gesamte Eichendorffstraße aus der frühmorgendlichen Lethargie.
    Unbeeindruckt jage ich die Treppe hoch in Anokis Zimmer, und da steht er totenbleich, vor Schreck erstarrt und mit weit aufgerissenen Augen mitten im Raum. Er lebt! Er ist unverletzt!
    Ich schließe ihn in meine Arme und wimmere irgendwas, er stößt mich mit einem tierhaften Schrei von sich weg und setzt mir in derselben Sekunde nach, um sich wie ein verhungernder Python um meinen Hals zu schlingen. Wir stehen eng umklammert da, als der nervtötende Lärm der Alarmanlage abbricht, und haben uns immer noch keinen Millimeter bewegt, als mein Vater ins Zimmer platzt.
    »Was … Julian? Was ist denn hier los?«, keucht er fassungslos.
    Ich hebe mein Gesicht aus Anokis Zottelschopf und grinse verlegen. »Hallo, Papa.«
    Das ist vielleicht nicht das entspannteste Frühstück meines Lebens, aber ich bin so erleichtert und so dankbar, dass Anoki meinen Mordanschlag überlebt hat – ich würde jetzt

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