Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
Vom Netzwerk:
und daher außen vor lasse. Ich nehme mir vor, ihm in Zukunft sachlicher und unsentimentaler zu begegnen, bevor er mich vollends zum Idioten macht. Es kann doch nicht sein, dass meine Pupillen sich jedes Mal zu pinkfarbenen Herzchen verformen, wenn er in meinem Blickfeld auftaucht! Das ist nur eine Charakterschwäche von mir, die ich in den Griff kriegen sollte. Ich bin aus dem Alter raus, wo man vor Schwärmerei Gänsehaut kriegt! In diesem Moment schaut Anoki von seinem Textbuch hoch und erwidert meinen Blick mit einem Lächeln, das fast meinen Kreislauf kollabieren lässt.
    »Du kommst doch zur Aufführung, oder?«, fragt er.
    »Was für eine Frage! Natürlich!«, antworte ich. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich mir das entgehen lasse!«
    Anoki grinst: »Meine totale Blamage? Nee, das darfst du echt nicht verpassen.«

 
 
93
    »In meiner Klasse sind nur vier, deren Eltern noch verheiratet sind und zusammenleben«, erzählt Anoki, als wir in der U-Bahn sitzen. Judith hat uns nicht vergessen, ebenso wenig wie unser unausgewogenes Verhältnis von Appetit und finanziellen Mitteln, und mit dem gewohnten Unbehagen leiser Scham habe ich ihre Einladung zum Abendessen angenommen.
    »Das sind ja nicht gerade viel«, erwidere ich.
    »Ja«, sagt Anoki, »und als wir da in der Klasse drüber gesprochen haben, hab ich gar nicht richtig gewusst, was ich sagen soll. Ich glaub schon, dass meine Eltern noch zusammen sind. Bloß eben nicht mit mir.« Noch viel schlimmer als die Tatsache, die er da ausspricht, ist die Art, wie er das tut: scheinbar gelassen und doch so offensichtlich zutiefst verletzt. Ich ringe noch um Fassung, als er bereits fortfährt: »Ich würd die gern noch mal suchen. Jetzt, wo ich weiß, dass die noch in Berlin sind. Die müssen doch irgendwie zu finden sein!«
    »Gegoogelt hast du ja bestimmt schon«, sage ich, »aber du könntest natürlich auch noch ehemalige Freunde und Bekannte fragen. Mit wem waren sie denn immer zusammen? Kannst du dich noch an Namen erinnern?« Anoki versucht, die Füße auf die gegenüberliegende Sitzbank zu legen, was ich durch einen wortlosen Hieb gegen seine Unterschenkel verhindere.
    »Ja, schon«, sagt er mit einer wegwerfenden Geste, »aber das sind doch keine richtigen Namen. Oder glaubst du, ich find bei Google ’n Snickers oder ’n Bingo?«
    Unweigerlich muss ich an meine eigene familiäre Situation denken. Bis vor kurzem hatte ich noch ein »intaktes Elternhaus«, aber trotzdem keine richtige Familie. Ganz ähnlich wie Anoki. Nach Benjamins Tod wirkten wir bestenfalls noch nach außen wie Vater, Mutter und Sohn – in Wirklichkeit waren wir Guerillakämpfer in verschiedenen Lagern. Jetzt ist meine Mutter weg und mein Vater psychisch kaputt, was die Sache wenigstens ehrlicher macht, auch wenn das das einzig Positive ist, was sich darüber sagen lässt. Ich frage mich, wie es bei den vier Schülern aus Anokis Klasse aussieht: Sind sie glücklicher als die anderen? Geht es ihnen besser? Oder ist es zynisch, solche Fragen überhaupt zu stellen?
    »Nick hat doch auch noch beide Eltern«, fällt mir ein. »Aber nach dem, was du mir erzählt hast, ist das nicht unbedingt hilfreich.« Anoki wirft mir einen kurzen, misstrauischen Blick zu, um zu ergründen, ob ich wieder über seinen Freund herziehen will.
    »Stimmt«, sagt er dann. »Die sind bloß körperlich anwesend. Ich glaub, dessen Brüder erziehen mehr an dem rum als die Eltern.«
    »Ja, mit durchschlagendem Erfolg«, bemerke ich, noch ehe ich mich bremsen kann, und schon knallt Anokis Turnschuhspitze gegen mein Schienbein.
    »Wichser«, faucht er.
    »Okay, sorry«, kapituliere ich  und hebe die Hände. Er hat ja recht. Und außerdem finde ich es gut, dass er so solidarisch ist.
    Die Türen des Wagons öffnen sich mit dem vertrauten Zischen, und Anoki sagt: »Ich könnt ja auch einfach mal ’n Tag lang durch die Stadt fahren und die suchen. Ich meine, ich kenn ja die Plätze, wo die sich so aufhalten.«
    Skeptisch verziehe ich die Mundwinkel. »Ich weiß nicht … Ich glaub nicht, dass das was bringt. Die Stadt ist einfach zu groß. Und in vier Jahren könnte sich alles Mögliche verändert haben.«
    »Meine Mutter hat sich überhaupt nicht verändert«, entgegnet Anoki störrisch. Er guckt zum Fenster raus auf den Bahnsteig, dann schließen die Türen sich wieder, und der Zug setzt sich erneut in Bewegung. »Du hast ja bloß Angst, dass ich die wiederfinde und zu denen zurückgeh«, sagt er leise.
    Ich bin

Weitere Kostenlose Bücher