Herzbesetzer (German Edition)
Leben aufs Spiel gesetzt. Er erwähnt es nicht mal mehr. Nur mit dem Kuss tyrannisiert er mich noch oft und gerne, aber ich glaube, das liegt vor allem daran, dass er selbst ihn als ziemlich einschneidendes Erlebnis wahrgenommen hat und aus diesem Grunde immer wieder darauf zu sprechen kommen muss. (Vielleicht ist das auch eine unangemessen optimistische Vermutung.) Ich gehe einfach locker darüber hinweg und tue so, als sei das Ganze eine unbedeutende Lappalie. Trotzdem gibt es Probleme, und ich fürchte, das sind die Nachwirkungen meines Vertrauensbruchs. In der folgenden Woche lässt Anoki wieder keine Gelegenheit aus, sich als schwer erziehbares Heimkind aufzuführen: er wird beim Klauen von CDs erwischt, beschmiert mit einem schwarzen Edding die Sitze im Bus – für den er im Übrigen wie gewöhnlich kein Ticket gelöst hat –, nietet mit seinem Skateboard eine Fußgängerin um, wobei sie sich einen Knöchel bricht, wird auf der Schultoilette erneut beim Rauchen ertappt, schwänzt den Sportunterricht und prügelt sich mit einem Jungen aus der Nachbarschaft. Und das sind nur die Missetaten, deren er überführt wird. Am Telefon berichtet er mir noch von etlichen weiteren.
Ich weiß, dass das seine Art ist, seine Angst und sein Unbehagen auszudrücken, aber natürlich würde ich gerne etwas dagegen unternehmen. Leider bin ich völlig hilflos. Ich rede bloß Abend für Abend auf ihn ein und bemühe mich, ihn nicht zu verurteilen, ihm aber trotzdem seine Grenzen aufzuzeigen. Ab und zu lässt er einen Hauch von Einsicht erkennen. Aber am nächsten Tag hat er schon wieder den nächsten Bock geschossen.
Am Wochenende fahre ich nach Neuruppin, sorge dafür, dass das Haus wieder in einen halbwegs bewohnbaren Zustand versetzt wird, und warte besorgt auf Anokis nächstes Verbrechen, aber er ist so brav wie eine Pfarrerstochter. Was immer ich ihm auftrage, erledigt er sofort, vollständig und widerspruchslos. In der übrigen Zeit weicht er nicht von meiner Seite, strahlt mich unausgesetzt an und bombardiert mich ungefragt mit Nahrung, Getränken und Drogen aller Art. Ich habe alle Hände voll zu tun, die Folgen seiner jüngsten Gräueltaten abzuschwächen, zum Beispiel indem ich bei den Eltern des verprügelten Nachbarjungen zu Kreuze krieche oder der vom Skateboard überfahrenen Fußgängerin einen großen Blumenstrauß bringe. Anoki nimmt das mit heiterem Gleichmut zur Kenntnis, lässt aber durchblicken, dass er meine Bemühungen für ziemlich überflüssig hält, was mich aufregt.
Kaum bin ich wieder in Berlin, macht er weiter. Noch in der Nacht zum Montag – genau gesagt um zwei Uhr siebzehn – ruft mich mein Vater an und berichtet mir bitter und von ständigem Gähnen unterbrochen, dass Anoki soeben von der Polizei nach Hause gebracht worden sei, weil er am Neuen Markt mit einer Horde betrunkener Jungs eine Art Bierflaschenweitwurfwettbewerb veranstaltet habe. Ich lasse ihn Anoki ans Telefon holen und stauche meinen missratenen Randalierbruder so zusammen, wie mir das um diese Uhrzeit nur möglich ist. Alles, was Anoki darauf antwortet, ist: »Ich vermiss dich.« Und selbst das kann ich kaum verstehen, denn er ist so besoffen, dass er lallt.
»Merkst du nicht, wie er dich unter Druck setzt?«, sagt Judith am nächsten Abend. Für ihre Verhältnisse ist sie ganz schön zornig. »Das ist doch total durchgeplant! Die ganze Woche baut er Mist, und sobald du da bist, spielt er den Braven. Und wenn du zurück nach Berlin fährst, flippt er augenblicklich wieder aus. Diese Botschaft versteht ja wohl auch der Dümmste.«
Ich spüre, dass ich keine Lust habe, das mit ihr zu diskutieren. Ja, klar, sie hat recht. Aber sie ist voreingenommen, sie ist vermutlich eifersüchtig, und außerdem kennt sie Anoki nicht so wie ich. Sie versteht das nicht.
»Du denkst wahrscheinlich, du bist der Einzige, der mit ihm klarkommt, was?«, fährt sie zu meinem Ärger fort. »Damit hat er ja dann sein Ziel erreicht. Sehr raffiniert. Er lässt sich von dir retten und gibt dir obendrein noch das Gefühl, dass du was ganz Exklusives bist. So was wie der Pfleger von Knut. Keiner kann dieses Raubtier zähmen außer Julian Trojan.«
Ja! Genau so ist es! Und sie braucht das wirklich nicht ins Lächerliche zu ziehen! Ich unterdrücke mühsam jeden Impuls, darauf zu antworten, denn ich weiß, es käme nichts Gutes dabei heraus.
Am Mittwochabend ruft Frau Paschmann an, Anokis Kontaktperson im Jugendamt. Sie wirkt leicht gereizt. »Ich war heute
Weitere Kostenlose Bücher