Herzbesetzer (German Edition)
habe die Befürchtung, dass die nackte Eifersucht daraus spricht. Oder ist ihr das inzwischen alles egal?
»Also, falls die mich fragen, ich hab absolut nichts dagegen«, beteuert meine Mutter. Wenig später beenden wir das Gespräch, ohne über irgendetwas Persönliches geredet zu haben. Ich bin aufgewühlt, wütend, niedergeschlagen und unzufrieden.
»Prinzipiell sehe ich keinen Grund, warum Anoki nicht nach Berlin ziehen sollte«, sagt Frau Paschmann.
Ich unterdrücke einen Schmerzensschrei, weil Anoki unter dem Tisch vor Begeisterung meine Hand zerquetscht.
»Solange die Pflegeeeltern damit einverstanden sind … Mit Ihrer Mutter habe ich schon telefoniert, sie unterstützt die Idee. Sie sind ganztags berufstätig, ja?«
Ich nicke und gebe ihr ein paar schönfärberische Informationen über meine Arbeit, insbesondere über die Flexibilität, die ich dort genieße, womit ich andeuten will, dass ich Anoki rund um die Uhr von jeder beliebigen Polizeiwache Berlins abholen kann.
»Und ich nehme an, Sie leben in einer festen Beziehung. Sind Sie verheiratet?« Mir klappt der Unterkiefer runter, aber nicht lang genug, dass sie es bemerkt.
Anoki schielt besorgt zu mir rüber.
»Ähm … fast«, sage ich dümmlich, und als Frau Paschmann von ihrer Akte auf- und mich fragend anblickt, füge ich hinzu: »Verlobt. Ich, äh, bin verlobt.«
Mein Vater macht eine rasche Bewegung auf seinem Stuhl – ich glaube, die erste, seit wir hier sitzen –, und Anoki lächelt seine Betreuerin entrückt an. »Die ist total geil, die Judith. Die kann voll fett kochen und backen.«
»Aha«, sagt Frau Paschmann mit einer gewissen Schärfe und fixiert ihn zwei Sekunden lang, ehe sie sich wieder mir zuwendet. »Dann ist es aber schade, dass Sie Ihre Verlobte heute nicht mitgebracht haben. Ich würde sie ganz gern kennenlernen, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffe. Sie wohnen dann schließlich alle unter einem Dach, oder?«
»Ja, krass, ne? Dann muss Una aber auch mitkommen«, kräht Anoki wie ein Dreijähriger auf einem Kindergeburtstag. »Die wird dann nämlich meine Schwester«, teilt er Frau Paschmann verschwörerisch grinsend mit.
Sie streift ihn nur mit einem Blick und guckt sofort wieder mich an, offenbar in der Überzeugung, dass ich hier der Einzige bin, mit dem ein einigermaßen vernünftiges Gespräch möglich ist. »Ihre Verlobte hat eine Tochter?«
Hm, ist das jetzt gut oder schlecht? Ich entscheide, dass das eigentlich nur einen Pluspunkt bedeuten kann. Vater, Mutter, zwei Kinder, klingt doch idyllisch, oder? »Ja. Una ist neun. Sie und Anoki verstehen sich ganz toll.«
»Ich hab der neulich Pokern beigebracht«, erklärt Anoki. »Hab direkt vier Euro dreißig verloren.«
Ich schlucke und schließe die Augen.
Zehn Minuten später stehen wir alle drei draußen auf der Straße. »Ach ja – herzlichen Glückwunsch zur Verlobung«, sagt Anoki, kichert wie ein bekiffter Eichelhäher und hüpft den Bordstein rauf und runter.
99
»Ich hab eine Bitte«, traue ich mich endlich zu sagen. Ich streichle Judiths Arm vom Handgelenk bis zur Schulter mit meinen Fingerspitzen, rauf und runter.
»Du darfst aber nicht sauer sein.«
»Meinst du damit, ich darf sie nicht ablehnen?«, fragt Judith lächelnd.
Mittlerweile habe ich gelernt, diesem herzlichen Lächeln zu misstrauen: man weiß nie, ob eine Pfeilspitze drinsteckt.
»Doch, das darfst du«, erkläre ich. »Ich meine, natürlich mach ich dann sofort Schluss mit dir und stelle alle Nacktfotos online, die ich heimlich von dir gemacht habe, aber ablehnen darfst du – klar.« Vermutlich misstraut sie meinen bescheuerten Witzen inzwischen auch, jedenfalls wirkt ihr Lächeln jetzt etwas eingefroren.
»Also, dann lass mal hören.«
Ich lege eine Fährte von Küssen über ihr Schlüsselbein, dann erzähle ich ihr, dass ich dringend eine Verlobte brauche. Judith hört sich die Geschichte schweigend an. Sie versteift sich.
»Weißt du eigentlich, was du da von mir verlangst?«, fragt sie schließlich. »Du hast ganz schön Nerven, Julian. Ich soll deine glückliche Braut spielen, damit du deinen … Lustknaben in deine Höhle zerren kannst?«
Ich fahre hoch. »Wie bitte? Lustknabe?! Anoki ist mein Bruder! Und ich zerre ihn in keine Höhle, ich versuche, ihm zum ersten Mal in seinem Leben ein Zuhause zu geben!«
Das ist unser erster Streit. Judith ist aufgebracht und verletzt. Schließlich findet sie die Idee einer vierköpfigen Familie tatsächlich sehr gut,
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