Herzbesetzer (German Edition)
eigene Theorie. »Das ist, als würde man von jemandem verlangen, sich zwischen … äh … Fahrrad und Auto zu entscheiden. Man kann doch beides haben! Das eine tut dem anderen nicht weh.«
Judith sieht skeptisch aus. »Beides gleichzeitig geht aber auch nicht«, gibt sie zu bedenken.
»Ja«, antworte ich, »deshalb bin ich ja auch für getrennte Schlafzimmer.« Ihr Gesichtsausdruck macht mir deutlich, dass ich mit meiner fatalen Neigung zu miesen Gags dringend mal zum Arzt gehen sollte. Ich murmele eine Entschuldigung. Wenigstens haben wir einen vorläufigen Schlusspunkt der Unterhaltung erreicht: das Thema muss erst mal ruhen und reifen.
Wie aufs Stichwort ruft Anoki an. Es ist mir peinlich, jetzt mit ihm zu reden. Judith könnte jedes einzelne Wort missverstehen. Andererseits ist mir nur zu bewusst, dass sein Vertrauen zu mir auf wackligen Beinen steht, und wenn ich es noch ein einziges Mal enttäusche, werde ich das garantiert bereuen. Also beschließe ich, Judiths Gegenwart aus meiner Wahrnehmung auszublenden.
»Warst du noch mal in meinem Zimmer?«, fragt Anoki gleich als Erstes.
Ich lächle in mich rein. »Na klar«, sage ich, »das war mir doch zu gefährlich.«
Er atmet hörbar auf. »Scheiße, Mann! Weißt du, was ich gedacht hab? Dass Dirk sich die gegriffen hat!« Trotz der Tragik dieser Situation muss ich lachen. Ich kann mir gut vorstellen, welche Panik Anoki ausgestanden hat – wie hätte er mir erklären sollen, dass mein Vater sich mit seinen illegal beschafften Schlaftabletten das Leben genommen hat? Verständlicherweise findet er das gar nicht lustig.
»Du hast echt ’n komischen Humor«, erklärt er kühl.
»Ich weiß«, sage ich, »ich spiele sogar schon mit dem Gedanken an eine Therapie.« Vermutlich hält er das für einen weiteren albernen Scherz.
»Ha, ha«, sagt er genervt. »Obwohl das echt mal nötig wär. Kannst dann auch gleich mal fragen, was du gegen dieses andere Leiden tun kannst.«
Das wäre der Zeitpunkt für eine klare Ansage, aber ich beschließe, es ihm diesmal durchgehen zu lassen. Er ist verletzt. Er braucht Zuneigung. Erziehen kann ich ihn später wieder. Also gehe ich über seine freche Bemerkung hinweg und sage: »Ist bei dir alles in Ordnung? Was gab’s Neues in der Schule?«, woraufhin sein gewohnter abendlicher Befindlichkeitsbericht startet, an den ich mich so sehr gewöhnt habe und auf den ich nie mehr verzichten möchte.
Ich mag die kindliche Zutraulichkeit, mit der er mir alles erzählt, ich mag die Vertrautheit, mit der er Sätze radikal verstümmelt, weil er genau weiß, dass ich ihn auch so verstehe, ich mag sogar seine Grammatikschnitzer und den Gossenjargon. Es ist schwer zu glauben, aber ich höre ihm Abend für Abend mit der größten Aufmerksamkeit zu. Ich lasse ihn nicht einfach plappern wie einen im Hintergrund laufenden Fernseher. Ich will jedes Detail wissen, ich frage sogar manchmal nach, und ich stelle ihn mir dabei vor, wie er auf seinem Bett liegt und mit mir redet, was für ein Gesicht er gerade macht, wie er das Bein anwinkelt oder sich auf die Seite rollt. Die ganze Zeit wünsche ich mir, ich könnte in mein Handy reinkriechen und auf der anderen Seite wieder rauskommen, um bei ihm zu sein.
Ich habe Judith tatsächlich vergessen. Nachdem wir das Gespräch beendet haben, sitze ich noch ein paar Sekunden in Gedanken versunken da, ehe ich mich an sie erinnere. Ich hebe den Kopf und stelle fest, dass sie mich forschend ansieht.
Dann macht sie eine winkende Handbewegung und sagt: »Hallo, bist du wieder da?«
Es ist nicht leicht, mich umzustellen, aber ich strenge mich an. »Ja – klar. Entschuldige. Ich wollte ihn gerade heute nicht einfach so abwürgen. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.«
Immer noch hat Judith ihren investigativen Blick auf mich gerichtet. Schließlich sagt sie ohne Vorwurf, nur mit einem Hauch von Traurigkeit: »Um eine solche Liebe kann man jeden nur beneiden.«
Ich könnte sie wieder in den Arm nehmen, aber selbst mir ist klar, dass das im Augenblick die falsche Geste wäre. Also sitze ich mit hängenden Schultern und quälenden Schuldgefühlen da und warte, was sie als Nächstes tut, aber wenn ich ganz ehrlich bin, dann ist da auch so ein winziges Gefühl von Triumph, weil es nämlich stimmt, was Judith gesagt hat, und ich stolz darauf bin.
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Dass Anoki kein bisschen nachtragend ist, überrascht mich. Er benimmt sich wie immer, als hätte ich nie mit meiner beschämenden Unreife sein
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