Herzbesetzer (German Edition)
Gedicht verfasst, das mir vage bekannt vorkommt – ich glaube, das hat sie bereits bei der Verlobung meines Cousins Joachim vor zwei Jahren vorgetragen. Mein Vater gibt bekannt, dass man lange überlegt habe, was man uns schenken könne (so lange kann das nicht gewesen sein – sie wissen das erst seit vier Tagen), und zu dem Ergebnis gekommen sei, dass wir alles hätten außer Geld. Mit diesen Worten überreicht er uns ein verheißungsvoll dickes Couvert. Judith ist vor Rührung überwältigt und greift immer wieder nach meiner Hand.
Ich hatte die Geschichte mit dem Ringtausch eigentlich ein bisschen als Scherz betrachtet. Als einen meiner albernen Gags. Ich meine, es sollte schon so eine Art Verlobung sein, aber – lieber Himmel, so ernst war das nun auch wieder nicht gemeint! Offenbar sieht meine Familie das anders, und ich kann es ihnen nicht übelnehmen, schließlich macht kein normaler Mensch mit so was Witze. Trotzdem fühle ich mich wie ein Hochstapler, der jeden Augenblick enttarnt werden kann.
Anoki sitzt weit von mir entfernt und in einem so ungünstigen Winkel, dass ich ihn nur sehen kann, wenn ich mich halb über die Suppenschüssel lege. Ab und zu tauschen wir einen zärtlichen Blick, aber er ist meist ganz ernsthaft und souverän in Gespräche mit seinen unmittelbaren Tischnachbarn verwickelt. Als die Mahlzeit beendet ist und der eine oder andere beim Abräumen der Teller mithilft, nutzt er die Gelegenheit und lässt sich auf den freien Stuhl zu meiner Linken fallen.
»Wie findest du die Torte?«, fragt er erwartungsvoll. Sie thront in der Tischmitte: ein psychedelisches Kunstwerk, zweistöckig, knallbunt und von Smarties besetzt, mit einem barbieähnlichen Brautpaar obendrauf und einer verschlungenen Inschrift aus rot gefärbtem Zuckerguss: »Julian & Judith«.
»Absolut schrill«, sage ich. »Ich wusste gar nicht, dass die Neuruppiner Konditoren unter Drogen arbeiten!«
»Hä?«, sagt Anoki. »Die hab ich gemacht, du Pappnase!«
Ich bin beeindruckt. Bisher war ich überzeugt, dass Anoki eine Küche nur betritt, um sich Bier aus dem Kühlschrank zu holen. »Na ja, mit Anette«, schränkt Anoki bescheiden ein. »Aber ich hab Regie geführt und das Feintuning gemacht.« Kein Zweifel, diese Torte atmet seinen Geist.
»Kann ich die alleine essen?«, frage ich gierig.
»Lass Judith mal lieber ’n Stück übrig«, rät mein Bruder weise.
Wie es in unseren Breitengraden üblich ist, stehen bereits die Flaschen mit Hochprozentigem auf dem Tisch. Gleichzeitig duftet es nach frischem Kaffee, und eine meiner Tanten drückt Judith ein gefährlich aussehendes Fleischermesser in die Hand.
»Ihr müsst jetzt die Torte anschneiden«, erklärt sie.
Ich schaue verlegen zu Boden. Muss das wirklich sein? Dieses ganze Wir-machen-ab-heute-alles-gemeinsam-Ding? Vielleicht hätte ich doch ein bisschen besser nachdenken sollen, bevor ich dieses verfluchte Juweliergeschäft betreten habe.
»Macht man das nicht erst bei der Hochzeit?«, unternehme ich einen zaghaften Fluchtversuch, aber ich ernte nur einen tadelnden Blick von Judith.
»Da können wir das ja gerne noch mal wiederholen«, sagt sie mit nadelspitzem Zynismus.
Ich gucke hilfesuchend zu Anoki rüber. »Ich will die Torte aber nicht kaputtmachen«, jammere ich.
»Stell dich nicht so kindisch an«, weist Judith mich zurecht. Sie lebt sich echt zügig ein in ihre neue Position. Ergeben umfasse ich ihr Handgelenk, während sie den Griff des Messers umklammert, und unter dem Jubel meiner Verwandtschaft zerteilen wir die wunderschöne Hippietorte mit glatten Schnitten, bis das geschniegelte Barbiepaar kopfüber in die Sahne stürzt.
101
Die Feier nimmt einen außergewöhnlich lebhaften Verlauf, wenn man bedenkt, dass sie fast ausschließlich von Familienmitgliedern bestritten wird und gut die Hälfte davon über fünfzig ist. Allerdings haben sie auch auf eine ausreichende Versorgung mit diversen Schnäpsen und Obstbränden geachtet. Trotzdem gibt es mir zu denken, dass Onkel Wilfried plötzlich Tante Anette auf dem Schoß hat, und wie Andrea meiner Verlobten Tangoschritte beibringt, das ist auch sehenswert. Anoki sitzt mit seinem Panther im Schneidersitz auf dem Couchtisch und flüstert ihm etwas ins Ohr, worauf er ihn heftig nicken lässt. Tante Gesine kommt mit grünem Gesicht von der Toilette zurück. Und ich fühle mich ebenfalls ein bisschen schwindlig, dabei aber auch federleicht; ich bin mir nicht sicher, ob ich die Sitzfläche des Stuhls
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