Herzbesetzer (German Edition)
bin.«
Da kriege ich allmählich Angst und das berühmte Gefühl, in der Falle zu sitzen. Aber zugleich schäme ich mich dafür, denn eigentlich sollte ich vor Dankbarkeit in die Knie sinken, dass ich so sehr geliebt werde, obwohl ich es so wenig verdiene.
Judith hat einen Wunsch, den ich ihr unmöglich ausschlagen kann: Sie möchte am nächsten Wochenende mit mir nach Neuruppin fahren, meinen Vater kennenlernen und mein Elternhaus sehen, die Stadt anschauen, in der ich großgeworden bin, und mehr über meinen Hintergrund erfahren. Lauter legitime Anliegen für eine frisch Verlobte. Trotzdem habe ich kein gutes Gefühl, und das gleich aus mehreren Gründen. Einer davon ist der kritische Geisteszustand meines Vaters, ein anderer natürlich Anoki, dem ich jede nur vorstellbare Intrige zutraue, um sich an Judith für ihren Verlobungstriumph zu rächen, und ein dritter Grund – na ja, das ist schwierig zu erklären. Es hat was mit der Preisgabe meiner Persönlichkeit zu tun, mit meiner Angst, zu viel von mir zu offenbaren, obwohl es wohl kaum etwas gibt, das Judith noch schockieren könnte. Aber sie hat gesagt, dass sie gerne Benjamins Grab sehen würde, und davor schrecke ich zurück, ohne es selbst zu verstehen.
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Mein Vater hat sich echt Mühe gegeben. Ich hatte schon befürchtet, er hätte gar nicht kapiert , dass ich mich verlobt habe, aber das hat er, und um seine potenzielle Schwiegertochter nicht gleich wieder in die Flucht zu schlagen, hat er gemeinsam mit Tante Anette einen beispiellosen Hausputz vorgenommen. So blitzblank habe ich mein Elternhaus zuletzt gesehen, bevor Anoki das erste Mal zu uns kam. Außerdem hat er sich sehr sorgfältig gekleidet, und Tante Anette ist auch da, um Judith zu begrüßen, und sie hat offenbar etwas Leckeres gekocht, jedenfalls duftet es verlockend aus der Küche. Beide sind unglaublich freundlich und kümmern sich rührend um meine Braut, weshalb es kaum ins Gewicht fällt, dass sie mich weitestgehend ignorieren, sieht man mal von einem Schulterklopfen, einer Umarmung und einem zweistimmigen »Herzlichen Glückwunsch« ab.
Viel mehr beunruhigt mich, dass Anoki nirgends zu sehen ist. Dies ist das erste Mal, dass er mich nicht bereits im Eingangsbereich mit Würgemalen und Hämatomen als sein Eigentum markiert. Ich suche nach einem Vorwand, unauffällig zu verschwinden und in sein Zimmer zu gehen, aber das wäre unhöflich, und Judith würde es mir wahrscheinlich übelnehmen. Also stehe ich unkonzentriert und dämlich lächelnd in der Gegend herum und blicke immer wieder über die Schulter zur Tür, ob mein begehrter Bruder endlich auftaucht.
Ich nutze eine Lücke im Gespräch, um meinen Vater zu fragen: »Wo ist denn Anoki?«, aber er sagt nur zerstreut: »Was? Ach, der wird schon kommen« und wendet sich wieder Judith zu.
Tante Anette nötigt uns, am Esstisch Platz zu nehmen, der zu meinem eisigen Entsetzen lediglich für vier Personen gedeckt ist. Ich bin so geschockt, dass ich gleich beim Hinsetzen meine Gabel runterwerfe und unmittelbar danach die Serviette fallen lasse. Unter dem Tisch ist Anoki auch nicht.
Tante Anette holt allerhand Schüsseln aus der Küche und setzt sich zu uns. Im selben Moment geht das Licht aus. Judith stößt einen leisen Schreckensschrei aus. Da öffnet sich die Tür zum Flur, und es kommt eine gewaltige Torte herein, die mit funkensprühenden Wunderkerzen gespickt ist wie ein Stachelschwein. Soweit ich das bei dieser unzulänglichen Beleuchtung erkennen kann, wird sie von einer ganzen Menschenschar gefolgt, und der vorderste ist unverkennbar mein schmerzlich vermisster Bruder. Lächelnd stellt er die Torte vor uns auf den Tisch, dann kriege ich endlich meine zeremoniellen Quetschungen; anschließend umarmt er sogar Judith. Hinter ihm drängt meine komplette Verwandtschaft nach: Onkels, Tanten, Cousins, Cousinen und was man noch so hat. Das Chaos ist unbeschreiblich, der Lärmpegel ebenfalls, jemand schaltet die Deckenbeleuchtung wieder ein, ich erhasche einen Blick auf meine glückstrahlende Verlobte in der Umarmung eines ihr wildfremden glatzköpfigen älteren Herrn (Onkel Wilfried), und diejenigen, die ihr Glückwunschkontingent bereits erfüllt haben, gehen sich nebenan Stühle, Geschirr und Gläser holen.
Gut. Dann haben wir jetzt eben eine Verlobungsfeier. Ungeplant, unerwartet, aber trotzdem ergreifend schön. Tante Lydia hält eine verschnörkelte kleine Ansprache, und meine Cousine Andrea hat ein grauenhaft holpriges
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