Herzbesetzer (German Edition)
ungeheures Sakrileg, was sie da ausspricht? Aber sie sagt nur, was sie sieht – und ich glaube, sie hat recht.
»Es war natürlich keine gute Idee von mir, Benjamin mit in die Disco zu nehmen«, gebe ich zu, da die ja sowieso alles über mich wissen. »Aber damals war ich erst neunzehn. Bei Anoki bin ich heute natürlich viel konsequenter«, lüge ich schamlos, »schließlich lernt man ja aus seinen Fehlern.« Wenn die wüssten! Ich senke den Kopf, da ich fürchte, dass ein verräterisches Grinsen über mein Gesicht huschen könnte.
»Tja, das will ich hoffen«, bemerkt Frau Paschmann etwas spitz, »offensichtlich hat er das ja auch mehr als nötig.«
Ich glaube, sie mag Anoki nicht. Ich glaube, ich mag sie auch nicht – und zwar genau aus diesem Grund.
Trotzdem bin ich optimistisch, als wir ihr Büro nach über einer Stunde verlassen. Judith und ich haben unsere Rollen beinahe so perfekt gespielt wie mein talentierter kleiner Bruder, der übrigens morgen Nachmittag dieselbe Befragung über sich ergehen lassen muss – getrennt, damit wir ihn nicht beeinflussen können. Und damit er die Möglichkeit hat zu sagen: »Bitte helfen Sie mir, ich will überhaupt nicht zu Julian, ich hasse ihn, aber er setzt mich unter Druck!« Höchstwahrscheinlich wird er stattdessen erklären, dass er nur einschlafen kann, wenn er sich ganz dicht an mich kuschelt. Ich muss ihn heute Abend am Telefon noch mal ein bisschen briefen.
104
»Nächstes Wochenende bin ich nicht da«, erklärt Anoki im Laufe seines allabendlichen Redeflusses.
»Was?«, schrecke ich hoch. »Wieso nicht? Wo bist du denn?« Obwohl ich ihn nicht sehen kann, spüre ich genau, dass er meine Panik genießt. Er liebt es, wenn ich meine Abhängigkeit von ihm zeige. Kommt ja auch selten genug vor. Also schiebt er eine ganz kleine Pause ein, ehe er sagt: »Theaterklausur. Wir fahren von Freitag bis Sonntag in irgendso’n Lager und machen Hardcoreproben. So lange, bis es sitzt, hat der Petzolt gesagt.«
Heißt das, dass ich Anoki erst am Freitag darauf wieder an mich drücken und mein Gesicht in seine Dreadlocks graben kann? Wie kann er mir das einfach so schonungslos sagen, am Telefon, ohne Vorbereitung?
»Kann ich dich da besuchen?«, frage ich schwach.
»Bist du bescheuert?«, kommt die gefühllose Antwort. »Blamier mich bloß nicht, Alter.«
Judith ist von der Vorstellung eines gemeinsamen Wochenendes ohne ihre minderjährige Konkurrenz sehr angetan, besitzt aber genügend Taktgefühl, es nicht allzu deutlich zu zeigen. Sie findet, ich könne ja dann von Freitag bis Sonntag bei ihr bleiben und sozusagen das Zusammenleben proben. Warum jagen mir diese Worte eine Gänsehaut über den Rücken? Egal, es gibt keine Gründe, die dagegensprechen – jedenfalls keine vernünftigen. Also gut. Dann spiele ich eben zwei Tage lang Ehemann und Vater. Es fängt auch alles ziemlich positiv an, nämlich mit einem traumhaften Hühnchen-Ananas-Curry auf Reis, gefolgt von einer großzügigen Portion Apfelkuchen. Definitiv einer der strahlendsten Aspekte des Ehemanndaseins. Und der Sex später hätte auch durchaus seinen Reiz, wenn ich nicht so vollgefressen wäre, dass mir jede Berührung meiner Bauchgegend Unbehagen verursacht.
Am Samstagmorgen lässt mein Enthusiasmus nach. Da holen wir nämlich Una von ihrer Freundin ab, wo sie übernachtet hat, und irgendwas muss schiefgelaufen sein, jedenfalls verbreitet sie miese Laune wie ein undichter Atomreaktor. Sie meckert an allem rum, ist unverschämt zu Judith, und als ich mir erlaube, sie zurechtzuweisen, wird sie auch noch frech zu mir. Ich überlege, ob ich das durchgehen lassen soll. Mir kommt der Tag nach der Verlobungsparty in den Sinn, als Judith sich über Anoki geärgert, aber nicht gewagt hat, ihm Kontra zu geben, und ich beschließe, dass ich diesen Fehler nicht machen werde.
»Hör mal«, sage ich zu Una, »es kann ja sein, dass deine Freundinnen sich so einen Ton von dir gefallen lassen. Aber mit mir redest du so nicht, verstanden?« Sie starrt mich finster an und sagt genau das, was ich erwartet habe: »Du hast mir überhaupt nichts zu sagen!«
»Hast du den Spruch im Fernsehen gelernt«, frage ich, »in irgendeiner Schnulze über Stiefkinder? Mann, bist du naiv. Das wirkliche Leben sieht total anders aus.«
»Ach ja? Wie denn?«, schnappt sie.
»Ganz einfach: Du behandelst mich mit dem nötigen Respekt, und wir kriegen keinen Streit«, erkläre ich. »Oder umgekehrt. Was sehr dumm von dir wäre, denn
Weitere Kostenlose Bücher