Herzbesetzer (German Edition)
alles längst vorbei ist. Jedenfalls wird mir der Hals so trocken, dass ich eine Halbliterflasche Wasser leer trinke, ehe wir überhaupt mit Schwimmen angefangen haben, und außerdem ist meine Aufmerksamkeit durch Anokis Zauber so abgelenkt, dass Judith und Andrea sich ganz alleine mit dem Aufblasen der Luftmatratzen rumplagen müssen. Zum Glück haben sie dabei offenbar jede Menge Spaß, und vermutlich fällt ihnen meine Zerstreutheit nicht weiter auf.
Ich bin der Letzte, der ins Wasser geht, und der Erste, der wieder rauskommt. Bäuchlings strecke ich mich auf meinem Handtuch aus, schließe die Augen und lasse mich von der Sonne liebkosen, und als hätte ich die Kraft, meine Träume wahr werden zu lassen, plumpst nur Minuten später ein nasser, kalter Frosch auf meinen Rücken und raunt in mein Ohr: »Hey, so ganz allein, schöner Fremder?«
»Jetzt nicht mehr«, sage ich, während Anoki von mir herunter- und auf den Platz neben mir rollt. »Und ich hab gerade von dir geträumt, Wassertiger.«
Anoki lächelt, ohne mich anzusehen; das ist so seine Art, mit meinen Liebeserklärungen umzugehen.
»Ich hab Hunger«, sagt er.
»O ja. Ich auch«, erwidere ich. Wir sind uns ohne Worte darüber einig, dass es verschiedene Arten von Hunger gibt.
103
Viel früher als gewöhnlich machen Judith und ich uns am Sonntagnachmittag auf den Heimweg: Una wird um siebzehn Uhr von ihrem Vater nach Hause gebracht. Ich bin nicht glücklich über den vorzeitigen Abbruch meines Wochenendes, und Anoki ist regelrecht niedergeschmettert, aber wir zwingen uns zur Vernunft und drücken unseren Schmerz hauptsächlich in der Heftigkeit unserer Abschiedsumarmung aus.
Danach sitze ich schweigend neben Judith im Auto. Sie hat das Lenkrad übernommen, deshalb kann ich es mir erlauben, meinen Gedanken nachzuhängen. Irgendwann sagt sie: »Ich möchte fast wetten, dass sie dir Anoki nur überlassen, wenn du mit deiner zukünftigen Ehefrau zusammenwohnst. Soviel ich weiß, haben Alleinstehende praktisch keine Chancen auf ein Pflegekind.«
Ich werfe ihr einen erstaunten Blick zu. Das ist ja nicht gerade sehr subtil. Aber Judith guckt nur gelassen zurück und konzentriert sich dann wieder auf die Straße.
»Du erpresst mich ja«, sage ich nur zum Teil scherzhaft. »Das ist strafbar.«
»Das ist aber nicht das Einzige, was strafbar ist«, entgegnet sie mit einem komischen scharfen Unterton, und ich kriege eine Gänsehaut.
»Ich hab nichts Verbotenes getan«, erkläre ich defensiv und merke, dass ich mich wie ein kleiner Junge anhöre.
Judith stößt einen Laut des Unglaubens aus. Ein paar Sekunden lang ertrage ich den Knoten in meinem Hals, dann füge ich kleinlaut hinzu: »Ich hab ja auch nie gesagt, dass ich nicht mit dir zusammenziehen will.«
Vorsichtshalber unterdrücke ich mit aller Gewalt den Impuls, so etwas hinzuzufügen wie: »Ich wollte mir sowieso eine Köchin suchen.«
Später an diesem Abend surfe ich im Internet, weil mir Judiths Andeutungen keine Ruhe lassen. Aha – ich bin überhaupt gar nicht pädophil! Erstens ist Anoki schon aus dem Alter raus, wo er noch als Kind gilt. Und zweitens kann ich bei mir keinerlei »überwiegend und primär auf Kinder ausgerichtetes sexuelles Interesse« feststellen. Im Gegenteil. Ich habe mich überhaupt noch nie für Kinder interessiert, schon gar nicht im Sinne schmutziger Absichten. Eigentlich will ich ja noch nicht mal welche haben . Die Erkenntnis, dass ich mich einfach zur Abwechslung mal in jemanden verliebt habe, der um ein paar Jahre jünger ist als ich, erleichtert mich so sehr, dass ich mich am liebsten betrinken würde.
Ein paar Tage später sitze ich schon wieder mit Ziel Neuruppin neben Judith auf dem Beifahrersitz. Sie besteht darauf, selbst zu fahren, weil sie findet, dass ich mich übernehme und meine Kräfte verausgabe und mehr auf mich achten sollte. An guten Tagen fühle ich mich von ihr umsorgt, an schlechten denke ich, sie hält mich für einen Schlappschwanz. Heute ist aber ein guter Tag, denn wir haben gleich einen Termin bei Frau Paschmann und werden ihr das glücklichste Paar Berlins präsentieren, dessen Glück sich lediglich durch die Aufnahme Anokis in sein zukünftiges gemeinsames Heim noch steigern ließe.
Außer Frau Paschmann sind noch zwei weitere Jugendamtsmitarbeiter anwesend, ein Mann und eine Frau. Das schüchtert mich ein. Wie wichtig nehmen die denn diese Begegnung? Ich habe furchtbare Angst, dass ich etwas Falsches sage oder dass Judith
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