Herzbesetzer (German Edition)
ich sitze am längeren Hebel.« Una wirft einen hilfesuchenden Blick zu Judith rüber, die sich angestrengt raushält und vorgibt, irgendwas in einer Schublade zu suchen. Dann verlässt sie türenknallend den Raum.
Ich bin gespannt, wie Judith jetzt reagiert.
»Du hast ja recht«, seufzt sie. »Manchmal nimmt sie sich wirklich zu viel raus.«
Ich sehe ihr an, dass sie noch nicht alles gesagt hat, was ihr auf der Zunge liegt. »Verlang nicht von mir, dass ich Una in Watte packe«, komme ich ihr zuvor und fühle mich zur Abwechslung mal wie ein echter, kerniger Macho. »Wenn wir hier mal so was wie eine Familie werden wollen, muss sie die Spielregeln einhalten. Anoki kriegt von mir auch Druck, wenn er frech wird.«
Judith schiebt die Schublade zu, etwas zu nachdenklich, wie ich finde. Ist Una was Besonderes, dass sie nicht erzogen werden muss?
»Das passt dir nicht, was?«, gehe ich auf Konfrontationskurs. »Das gefällt dir nicht, dass ich ihr die Meinung sage, stimmt’s?«
Judith guckt mich gequält an. »Ich weiß nicht, keine Ahnung«, sagt sie zögernd. »Doch – schon, irgendwie. Muss mich wohl dran gewöhnen.«
»Musst du nicht«, erkläre ich kalt. »Keineswegs. Sag mir ruhig, wenn du das nicht willst. Ich kann auch nach Hause fahren.«
Da wirkt Judith ziemlich erschrocken. »Nun sei doch nicht so empfindlich!«, ruft sie. Bin ich aber, verdammt.
Nach diesem Zwischenfall wird mir deutlich, wie schwierig das werden wird: das Zusammenleben mit so unterschiedlichen Menschen, die alle erst ihre Position in dieser Gruppe finden müssen. Wäre Anoki jetzt auch noch hier – es gäbe bestimmt das totale Chaos. Aber ich weiß, dass ich ihn nicht kriege, wenn ich nicht in »geordneten Verhältnissen« lebe, das haben sie mir im Jugendamt klipp und klar gesagt. Als Alleinstehender habe ich keine Chance, ihn zu mir zu nehmen, noch dazu bei unserem viel zu geringen Altersabstand und mit meiner zweifelhaften Vorgeschichte. Frau Paschmann hat allerdings auch erklärt, dass er vermutlich nicht bei meinem Vater bleiben kann. Sie war mehrfach unangemeldet dort und nicht begeistert von dem, was sie vorgefunden hat. Im Klartext: Anoki müsste zurück ins Heim, auch wenn dieses Wort nicht ausgesprochen wurde. Und wir alle wissen, was das für Anoki bedeutet.
Ich habe den halben Vormittag gegrübelt, um zu diesem Schluss zu gelangen, und bin Judith vermutlich mächtig auf den Zeiger gegangen mit meiner stummen Nachdenklichkeit, aber jetzt komme ich wieder an die Oberfläche der Realität und sage: »Wollen wir nicht irgendwas Schönes unternehmen?«
Judith und Una, die nach einer halben Stunde beleidigten Schmollens wieder aus ihrem Zimmer gekommen ist, sehen mich überrascht an. Ich hatte an eine erholsame, kräfteschonende Art der Freizeitgestaltung gedacht, Sonnenbaden im Park oder eine Dampferfahrt, denn um ehrlich zu sein: das einzig Positive an einem Wochenende ohne Anoki ist, dass mich niemand zu körperlichen Extremleistungen zwingt. Leider einigen sich Una und Judith auf eine Fahrradtour, aber im Rahmen meiner gerade getroffenen Entscheidung gebe ich nach und stelle erleichtert fest, dass Radfahren mit ihnen kein Vergleich ist zu diesen ultimativen Muskelexzessen mit meinem Bruder.
Wir rollen gemächlich durch den Grunewald, halten an, wenn es uns irgendwo gefällt, legen eine lange Pause im Biergarten ein und geraten nicht mal richtig ins Schwitzen. So eine Aktivität kann ich gerade noch als Erholung verbuchen.
Am Abend ruft Anoki an. Endlich! Ich flüchte mit meinem Handy auf den Balkon, um ihn ganz für mich zu haben.
»Boar, bin ich platt«, ächzt er. »Wir haben seit neun Uhr nur geprobt!« Hätte er seit neun Uhr ohne Pause auf einem Snowboard gestanden oder an einem Bungeeseil gehangen, würde er jetzt vermutlich noch um die Häuser ziehen wollen – aber das Proben war ja geistige Tätigkeit.
»Du Armer«, sage ich halb spöttisch, halb mitleidig. »Wie läuft’s denn so?«
Anoki liefert einen ausführlichen Bericht über jede einzelne Szene des Stücks ab, wer wie spielt, warum bestimmte Dinge nicht klappen, was man ändern müsste und wie er zunehmend Einfluss auf den Regisseur nimmt, weil er auf Anhieb erkennt, wo die Schwächen liegen. »Wir haben die Kommissarin umbesetzt«, sagt er, »die wird jetzt von der Kristin gespielt, die vorher bloß Maske gemacht hat. Und jetzt funzt das! Der Petzolt hätte mal besser direkt auf mich gehört, ich hab von Anfang an gesagt, die Ulrike kriegt das
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