Herzbesetzer (German Edition)
erzählt, ich sei ja nur scharf auf den Kleinen und hätte sie gezwungen, bei dieser Scharade mitzuspielen, und dann gucken die drei sich stumm an, und Frau Paschmann klappt Anokis Akte zu und steht auf und sagt: »Ja, das war’s, Herr Trojan. Verlassen Sie jetzt bitte mein Büro. Anoki wird noch heute zurück ins Heim gebracht« – oder so was in der Art.
Ich habe auf der Hinfahrt eine Tablette genommen, aber wenn ich gewusst hätte, dass die mir hier als Horde auflauern, hätte ich die ganze Schachtel geschluckt, mitsamt dem Beipackzettel. Es kommt mir so vor, als hänge meine gesamte Existenz von diesem Termin ab. Ich schwitze und habe eine ausgedörrte Kehle.
Bevor wir die Gelegenheit bekommen, die unbefleckte Reinheit unserer Absichten mitzuteilen, fasst Frau Paschmann noch mal die Situation zusammen, vermutlich um ihre Kollegen ins Bild zu setzen. Hätte sie das nicht vorher machen können? Ich werde immer nervöser, und außerdem geht es mir total nahe, das alles aus ihrem nüchternen, unbeteiligten Munde zu hören: dass meine Mutter nur wenige Monate nach Anokis Aufnahme abgehauen ist, dass mein Vater psychisch stark angeschlagen und mit der Erziehung überfordert ist, dass Anoki sich an keine Regel hält, laufend mit dem Gesetz in Konflikt kommt, in der Schule nur Mist baut und generell ziemlich aus dem Ruder läuft … Allerdings erwähnt sie auch, dass er unbedingt bei mir leben möchte und dass mein Einfluss auf ihn positiv zu sein scheint. Sie berichtet sogar, wie ich mich in der Schule für ihn eingesetzt habe, dass ich ihn zu sinnvollen Freizeitaktivitäten wie Karate und Theaterspielen überreden konnte und dass ich ihn über die gesamte Zeit finanziell unterstützt habe (eine Tatsache, die zu erwähnen ich mich nie getraut hätte).
Judith sieht mich von der Seite an, und ich wage lange nicht, ihren Blick zu erwidern, weil ich fürchte, er könnte spöttisch sein, aber als ich es schließlich doch tue, liegt in ihren Augen nichts als Anerkennung und Liebe. Ich bin ihr dafür so dankbar und meine Nerven liegen so blank , dass ich beinahe laut auflache.
Sie ist die Erste, der das Wort erteilt wird. Und sie übertrifft meine Erwartungen. Da ist kein Hauch von Eifersucht, nur ihr fester Wille, mich in meinem Vorhaben zu unterstützen. Sie sagt, dass sie meine Fähigkeit bewundert, mit Anoki umzugehen, dass er in meiner Gegenwart ein völlig anderer Mensch wird, dass ich ihn respektiere und liebe (ja, sie benutzt ohne zu erröten das Wort »lieben«) und ihm gleichzeitig seine Grenzen zeige, dass ich als Einziger Zugang zu ihm habe und dass Anoki ohne mich niemals zurechtkäme. Mir läuft ein Schauer nach dem anderen über den Rücken, so erhaben ist das alles. Ich bin beinahe sicher, dass ich vom Glanz der Heiligkeit umstrahlt werde. Außerdem erzählt Judith, dass sie meinen Nachwuchsbruder ebenfalls ins Herz geschlossen hat, dass er auch ihrer Tochter viel bedeutet und dass sie mehr und mehr seinen guten Kern entdeckt. Und schließlich erklärt sie mit entwaffnender Ehrlichkeit, dass sie mich liebt und mit mir zusammenbleiben möchte, aber genau weiß, dass ich mir eine Familie ohne Anoki nicht vorstellen kann. Wörtlich sagt sie: »Ich hab so eine Liebe noch nie gesehen, das ist wirklich total rührend. Wenn man die beiden trennt, ist das wie ein Doppelmord.«
Vor lauter Peinlichkeit traue ich mich kaum, den Kopf zu heben, doch komischerweise greift niemand nach dem Telefonhörer, um das Sittendezernat zu alarmieren, sondern aller Augen ruhen wohlgefällig auf mir wie auf einer männlichen Mutter Teresa. Ich setze ein bescheidenes Lächeln auf und kämpfe verzweifelt gegen die hartnäckige Erinnerung an Anokis volle, weiche Lippen, als ich ihn im Auto geküsst habe.
Dann blättert Frau Paschmann in ihrer Akte, diesem Surrogat von Macht und Geheimwissen, und sagt: »Es gab da ja mal ein Verfahren gegen Sie wegen fahrlässiger Tötung.«
Erschrocken blicke ich hoch, in die verengten Augen ihrer beiden Kollegen. »Ähm, ja, aber das wurde doch eingestellt«, bringe ich mühsam hervor. Da niemand etwas sagt, fahre ich fort: »Das war die Sache mit meinem Bruder. Ich bin am Steuer eingeschlafen. Ich hatte nichts … also, fast nichts getrunken.«
Judith nimmt meine Hand und sagt: »Julian hat seinen Bruder beinahe genauso geliebt wie Anoki.«
Zuerst rauscht dieser Satz an mir vorbei, weil ich so aufgeregt bin, aber dann stolpere ich über die Formulierung »beinahe genauso«. Ist das nicht ein
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