Herzbesetzer (German Edition)
allein. Unglücklich und verzweifelt rolle ich mich in Judiths Bett zusammen.
Nach einer Weile kommt sie rein, kuschelt sich mit unzweideutigem Lächeln an mich und sagt, während sie mein Hemd aufknöpft: »Una ist gerade von ihrer Freundin abgeholt worden. Wir haben den ganzen schönen Sonntag für uns.«
Das klingt interessant. Aber warum muss ich für jeden Spaß so teuer bezahlen?
Gegen achtzehn Uhr fahre ich nach Hause, weil ich das deutliche Gefühl habe, dass für Judith und Una schon die neue Woche anbricht. Da werden hastig vergessene Hausaufgaben nachgeholt, an Unas Sporthose muss der Gummibund ausgebessert werden, und die Schultasche ist auch noch nicht gepackt. Zum Abendessen gibt’s ohnehin nur die Reste von gestern. Ich verpasse also nichts. Kaum bin ich in meiner Wohnung, rufe ich Anoki an, aber er sitzt noch mit einem Großteil seiner Theatertruppe in irgendeinem Café und lässt das gemeinsame Wochenende ausklingen, deshalb können wir nur kurz sprechen. Nachdem ich aufgelegt habe, stelle ich mir vor, dass sämtliche Ulrikes und Kristins und wie sie alle heißen sich um den Platz an seiner Seite zanken, ihn anschmachten, ihm Zettel mit unmissverständlichen Aufforderungen zustecken und sich so über den Tisch beugen, dass er ihnen in die Ausschnitte gucken kann. Ich steigere mich in eine ziemlich miese Stimmung hinein, die ich auch nicht vertreiben kann, indem ich am PC Fotos bearbeite.
Schließlich erleide ich einen Rückfall. Ich rufe Janine an. Das ist beschämend, ich weiß, aber ich fühle mich so frustriert und einsam und gleichzeitig bedrängt – vermutlich ist das ein unreifer Versuch, mich in mein früheres unabhängiges Leben zurückzuversetzen, als ich noch nicht für einen haltlosen, schwierigen und gnadenlos verführerischen Vierzehnjährigen verantwortlich war, meinem Vater bei seinem psychischen Verfall zusehen musste, der alleinerziehenden Mutter einer feindseligen Zicke die Ehe versprochen hatte, vom Jugendamt überwacht wurde und der Gefangenschaft in einer überbelegten Vierraumwohnung entgegensah. Als ich noch jederzeit spontan in die Kneipe gehen, Pornos gucken und vögeln konnte, wen und wo ich wollte. Als niemand Ansprüche auf mich erhob und niemand mich vermisste, wenn ich nicht da war. Ich denke nicht darüber nach, ob es mir damals besser ging – ich weiß nur, dass ich genau jetzt mies drauf bin und irgendein Ventil brauche.
Janine ist zunächst nicht gerade enthusiastisch. Immerhin habe ich mich seit Wochen nicht mehr gemeldet, und wahrscheinlich hat sogar sie so was wie Stolz. Aber nachdem ich ihr eine rührselige Story von meinem schwierigen kleinen Bruder aufgetischt habe und wie ich mich um ihn kümmere und dass ich praktisch meine gesamte freie Zeit für seine Sozialisation aufwende, schmelzen ihre Widerstände dahin, und zwei Stunden später liegt sie außer Atem neben mir in meinem Bett und sagt: »Jetzt weiß ich wieder, warum du mich jedes Mal rumkriegst, du Mistkerl.«
Gleichzeitig steigt ein überwältigender Selbstekel in mir hoch. Am liebsten würde ich sie auf der Stelle rausschmeißen. Aber ich möchte nicht noch mehr Schuld auf mich laden, deshalb warte ich mit unterdrücktem Widerwillen, bis sie in ihre Handvoll Klamotten steigt und sich mit einem abscheulich intimen Kuss von mir verabschiedet. Danach gehe ich unter die Dusche und versuche, mich aus meiner Haut zu schrubben.
106
Seit meine Mutter verschwunden ist, rufe ich ein- bis zweimal in der Woche meinen Vater an und mache den Versuch, mit ihm zu reden. Mich bedrückt der Gedanke, dass er schuldlos leidet, und komischerweise ist mir fast entfallen, wie er mich seit Benjamins Tod ignoriert, verachtet und mit stummer Ablehung gestraft hat. Jetzt ist er für mich nur noch ein gebrochener, rapide alternder Mann, alleingelassen und überfordert, und ich habe Mitleid mit ihm. Obwohl ich jedes einzelne dieser Telefongespräche mit einem Gefühl totaler Sinnlosigkeit beende, weil er grundsätzlich keine meiner Fragen beantwortet, dasselbe Repertoire von acht bis zehn Standardfloskeln abspult und generell ziemlich verpeilt wirkt, wähle ich schon ein paar Tage später wieder seine Nummer. Ich weiß nicht, ob es die Hoffnung auf Besserung seines Zustands ist oder einfach Pflichtgefühl. Ich weiß nur, dass es ihm schlecht geht und ich das gerne ändern würde.
Am Montag nach meinem Rückfall habe ich ein besonders heftiges Bedürfnis nach Sühne. Am liebsten würde ich Judith und auch Anoki
Weitere Kostenlose Bücher