Herzbesetzer (German Edition)
alles beichten, mich vor ihnen auf den Boden werfen und sie um Verzeihung anflehen. Zum Glück bin ich vernünftig genug, das nicht zu tun. Aber ich arbeite an diesem Tag so fleißig wie seit Wochen nicht mehr, mache meiner Chefin ein Kompliment über ihre Bluse, das ein ungläubiges Kopfschütteln bei ihr auslöst, spendiere Martin und Jörg zwei Becher Cappuccino, rufe in der Mittagspause Judith an und frage sie, wann wir gemeinsam Wohnungen besichtigen wollen, und nach der Arbeit melde ich mich bei meinem Vater.
Er ist wie immer: leicht desorientiert, zerstreut, geistesabwesend. Vielleicht eine beginnende Demenz? In dem Alter schon? Wie so oft frage ich ihn, ob ich vorbeikommen und irgendwas für ihn tun soll, und wie immer antwortet er: »Brauchst du nicht. Ich komm schon zurecht.«
Und wie jedes Mal denke ich traurig, dass er von jedem anderen lieber Hilfe annehmen würde als von mir. Heute macht mich dieser Gedanke noch trauriger als sonst, weil ich ohnehin vor lauter Schuldgefühlen fast Ausschlag kriege. Niedergeschlagen warte ich auf Anokis Anruf.
»Du hörst dich voll komisch an heute«, sagt mein aufmerksamer Bruder schon nach wenigen Sätzen. »Hat Judith irgendwas Unanständiges mit dir gemacht?«
Leider nicht nur sie, denke ich düster. »Och, weiß auch nicht«, sage ich zögernd. »Bin irgendwie mies drauf heute.«
»Entzug«, sagt Anoki.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe: »Wie meinst du das?«
»Ein Wochenende ohne mich«, erklärt der kleine Nachwuchsstar selbstbewusst.
»Eingebildeter Fatzke«, erwidere ich schnaubend, »das meinst du doch wohl nicht im Ernst! Hör mal, weißt du, wie geil das war? Ich musste um keinen See skaten und keine Steilhänge hoch- und runterrennen und keine Sauforgien machen und kein Fast Food runterwürgen, ich konnte mich total entspannen und wurde verwöhnt, und außerdem hab ich nicht mehr so sparsam gelebt, seit ich dich kenne!«
»Klar, und deshalb bist du heute so relaxt und glücklich«, sagt er unbeeindruckt. Er berichtet von seinen Theaterproben, und weil mich dieser Gedanke immer noch quält, frage ich: »Und die Mädels? Wie viele hast du flachgelegt?«
Anoki schweigt einen Augenblick, dann sagt er: »Findest du das langweilig, was ich dir erzähle?«
»Ich frag ja nur«, erwidere ich eingeschüchtert, »ich dachte, weil ihr doch da die ganze Zeit … auf engstem Raum … und nur ein Lehrer als Aufsicht …«
»Wir haben da geprobt«, erklärt Anoki humorlos. »’n Theaterstück. Das war kein Swingertreff.«
»Okay, tut mir leid«, sage ich, »da hab ich wohl unsere Hobbys ein bisschen durcheinandergebracht.«
Aber Anoki hat heute wirklich keinerlei Sinn für Scherze. »Wir können jetzt auch auflegen, und du guckst dir ’ne DVD an«, schlägt er eingeschnappt vor.
Puh, seit wann ist er so kompliziert? »Jetzt lass mal gut sein!«, antworte ich, nun meinerseits leicht gekränkt. »Ich hab mich doch schon entschuldigt!«
Obwohl wir im weiteren Verlauf unseres Telefonats wieder zu unserer gewohnten Vertrautheit zurückfinden, bin ich nicht recht getröstet, nachdem ich die Beenden-Taste gedrückt habe. Ich fühle mich beschuldigt, verurteilt und abgelehnt. Und das Schlimme ist: ich habe es verdient. Sonst könnte ich wenigstens wütend sein und mir irgendeine böse Rache ausdenken oder mir eine Runde selber leidtun. Aber ich bin tatsächlich der letzte Dreck, und wenn Anoki mir seine Zuneigung entzieht und mich verachtet, beweist das nur, wie feinfühlig und klug er ist. Ich kauere in meinem Sessel, starre trüb vor mich hin und denke über mich nach: ein Lügner und Betrüger, ein Brudermörder, ein Kinderschänder und Frauenverachter, selbstsüchtig und unsensibel, ohne Respekt vor anderen, nur auf meinen eigenen Vorteil bedacht, durch und durch verdorben. Ich wünschte, es gäbe an meinem Leben einen Reset-Schalter, wo ich alles wieder auf Null setzen könnte.
107
Ich kann mir unmöglich schon wieder einen Tag freinehmen, deshalb treffen Judith, Una und ich erst rund anderthalb Stunden vor Beginn der Aufführung ein. Zu Hause finden wir Anoki nicht mehr vor, da ist nur mein Vater, der uns erklärt, dass Anoki bereits in der Schule sei und dass er selbst sich noch umziehen und dann nachkommen wolle. Ich frage, ob ich auf ihn warten und ihn mitnehmen soll, aber er deutet in merkwürdig schwer verständlichen Formulierungen an, dass Anoki mich jetzt dringender braucht. Also steigen wir wieder in Judiths Auto
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