Herzbesetzer (German Edition)
und eilen meinem Bruder zur Hilfe.
Im Schulgebäude herrscht beängstigende Hektik, und es dauert eine ganze Weile, ehe wir Anoki gefunden haben. Er hastet durch einen der Flure und bemerkt uns erst, als ich ihn an seinem T-Shirt festhalte, wobei er einen erschrockenen Schrei ausstößt und dann direkt losmotzt: »Wieso bist du so spät? Es geht doch gleich los!«
So bin ich noch nie von ihm begrüßt worden. Ich habe ja Verständnis dafür, dass er im Beisein seiner Mitschüler nicht die üblichen schmerzhaften Besitzmarken an mir anbringen möchte, aber ein bisschen mehr Freundlichkeit könnte trotzdem nicht schaden! Dann sehe ich ihn mir genauer an und erkenne, dass ich kein rationales Verhalten von ihm erwarten kann: Er ist total neben der Spur. Sein Blick spiegelt brodelnden Irrsinn, sein Mund zuckt unkontrolliert, seine Bewegungen sind hektisch und ziellos. Das Lampenfieber muss ein beinahe letales Ausmaß erreicht haben.
Wir folgen Anoki auf seinem schlingernden Zickzackkurs durch diverse Korridore, Treppen rauf, Treppen runter, bis wir in eins der Klassenzimmer abbiegen, das offenbar heute Abend als Garderobe dient. Andere Schüler sind hier bereits dabei, ihre Bühnenklamotten anzuziehen. Ich erhasche einen Blick auf einen rahmweißen nackten Jungenhintern, ehe sich uns ein Lehrer in den Weg schiebt.
»Warten Sie bitte draußen – hier haben nur die Darsteller Zutritt!«
Judith zieht mich am Ärmel aus dem Raum, und Anoki folgt uns ebenfalls.
»Jetzt hau doch nicht ab!«, fährt er mich an.
»Entschuldige, wir sind rausgeschmissen worden«, erkläre ich ihm, aber er nimmt meine Antwort gar nicht zur Kenntnis. Seine Blicke flackern ruckartig in alle Richtungen, als seien sie auf der Flucht. »Ihr müsst … ihr müsst …«, sagt er und schießt dann pfeilartig den Gang herunter, um sofort wieder zurückzukommen. Keine Ahnung, was wir müssen.
Ich lege den Arm um Anokis zitternde Schultern und hoffe, dass ich ihm ein bisschen Sicherheit geben kann. Vorsichtig nehme ich ihn beiseite in eine ruhige Ecke an einem Fenster.
»Du schaffst das«, sage ich mit der allergrößten Zuversicht. »Du bist gut. Du bist der Beste. Du bist zum Schauspielern geboren, Tiger. Du wirst hier gleich die Massen zum Toben bringen. Lass dich nicht verrückt machen. Schau mal, du hast noch über eine Stunde Zeit. Jetzt guck mal da raus ins Grüne und atme ganz tief ein und aus.«
Anoki gehorcht, aber sein Atem vibriert vor Anspannung. Ich rede weiter leise und hypnotisch auf ihn ein und werfe dabei einen schnellen Seitenblick zu Judith. Sie steht mit verschränkten Armen neben dem Garderoben-Klassenraum und beobachtet mich, und ich wüsste gern, ob der Ausdruck auf ihrem Gesicht Eifersucht oder Unterstützung bedeutet. Ich habe keine Zeit, es rauszufinden, denn Anoki macht schon wieder Anstalten, sich aus meinem positiven Energiefeld wegzustehlen. Also verstärke ich den Druck um seine Schultern und rede immer weiter, lauter Durchhalte- und Bekräftigungsformeln oder auch dick aufgetragene Schmeicheleien, was mir gerade in den Sinn kommt. Nach zehn, fünfzehn Minuten geht sein Atem gleichmäßiger, und ich spüre, dass seine Verkrampfung ein bisschen nachgelassen hat. Offenbar bin ich so was wie ein Teenieflüsterer – was mich mit Stolz erfüllt.
Judith und Una haben sich verkrümelt, und ich darf nicht vergessen, mich dafür bei ihnen zu bedanken. Aber zuvor muss ich sicherstellen, dass ich Anokis zerbrechliches Gleichgewicht nicht wieder zerstöre.
»Also, du gehst jetzt in die Garderobe«, sage ich in möglichst tiefer und ruhiger Stimmlage, »und ziehst dich um. Du wirst umwerfend aussehen. Wenn du dann rausgehst auf die Bühne, bist du Dennis. Das bist du einfach. Du brauchst nichts zu spielen oder was auswendig Gelerntes aufzusagen, weil du einfach du selbst bist. Du – bist – Dennis. Und das ganze Publikum wird an deinen Lippen hängen und dich wie wahnsinnig lieben, weil du so unglaublich gut bist. So toll, so fantastisch – ein Naturereignis.« Für einen Sekundenbruchteil realisiere ich, dass ich ihm gerade eine sehr subtile Liebeserklärung mache, denn das Publikum, das bin natürlich in erster Linie ich. »Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst«, fahre ich fort. »Du hast alles im Griff. Du kennst deinen Text, es steht alles hier drin.« Ich tippe auf seine Brust. »Das bist du, der da redet. Deine Worte. Keine Rolle – du selbst.«
Zum ersten Mal seit Beginn unserer Therapiestunde hebt Anoki den
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