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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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Blick zu mir auf und schaut mich so gläubig und andächtig an, dass ich fast ohnmächtig werde. Gott! Ist der süß! Wo ist das Jungenklo?!
    »Okay«, haucht er, »ich geh jetzt.« Mein tapferer Tigerbruder wendet sich ganz kurz ab und direkt wieder mir zu. Er schließt die Augen, umarmt mich und legt den Kopf an meine Brust. Sprachlos vor Entzücken halte ich ihn fest, zwei Sekunden, drei Sekunden. Dann löst er sich von mir, lächelt mich an und verschwindet in der Garderobe.
    Ich sehe ihm viel zu lange mit weichen Knien hinterher, dann mache ich mich auf die Suche nach Judith und Una. Sie warten vor dem Eingang zur Aula, wo sich bereits weiteres erwartungsvolles Publikum eingefunden hat; überwiegend Eltern. Noch zwanzig Minuten. Ich denke an meine Verpflichtung und sage: »Danke, dass du uns ein bisschen Zeit gegeben hast. Er war ja so aufgeregt, der arme Kerl. Ich glaub, jetzt geht’s ihm besser.«
    Judith nickt und schweigt; ich kann ihren Gesichtsausdruck immer noch nicht deuten. Im Hinblick auf die bevorstehende längere Wartezeit lehne ich mich an die Wand und schiebe die Hände in die Jackentaschen. Moment mal –? Ich taste darin herum und spüre, wie mein Blutdruck gegen meine Schädeldecke prallt. Oh, dieser Judas! Also deshalb hat er mich umarmt!
    »Scheiße«, stöhne ich, und Judith fragt: »Tut dir was weh?«
»Die Tabletten«, stoße ich hervor, »er hat mir die Tabletten aus der Tasche geklaut!« Ich nehme, seit ich Anoki ausgeliefert bin, immer nur so viel von meinen Medikamenten mit, wie ich benötige, aber da wir bis Sonntag in Neuruppin bleiben wollen, hatte ich einen Blister mit acht Stück in der Tasche (täglich zwei plus Reserve für unvorhergesehene Katastrophen). Acht hammerharte Beruhigungspillen, und wenn ich mich nicht sehr in Anoki täusche, spült er sie in diesem Moment alle auf einmal runter, vermutlich mit einer geklauten Flasche Doppelkorn. Ich gerate so in Panik, dass ich eigentlich ganz dringend eine ähnliche Dosis benötige.
    Judith gibt sich Mühe, ein paar grundlegende Infos aus mir herauszupressen. Aber das dauert mir alles zu lange – ich stürme wieder hoch zu der Schauspielergarderobe und sprenge die Tür auf, ohne mich mit Klopfen aufzuhalten. Diesmal regnet erbostes Protestgeschrei auf mich herab, und der Lehrer von vorhin stampft zornig auf mich zu.
    »Bitte! Ich hab Ihnen doch gesagt, dass …«
    »Wo ist Anoki?«, schneide ich ihm das Wort ab. Und da er nicht bereits vor dem Fragezeichen eine Antwort gibt, schreie ich ein zweites Mal: »Anoki! Wo ist er!?«
    Er und einige Schüler drehen suchend die Köpfe, und auch ich lasse hektisch den Blick durch den Raum irren.
    »Hier ist er nicht«, sagt der Lehrer, und ich fauche: »Das seh ich selber!« und lasse ihn stehen. Ich irre wie eine materialisierte Kafka-Fantasie durch endlose Gänge, Flure und Korridore, öffne abweisend wirkende Türen oder rüttele an verschlossenen Pforten, finde mich in leblos leeren Klassenräumen, durchstreife graffitibesudelte Schülertoiletten und renne auch von außen um das efeubewachsene Backsteingebäude herum. Anoki finde ich nicht. Stattdessen werde ich gefunden, und zwar von meinem Vater, der abgehetzt vom Parkplatz herbeieilt und mir zuruft: »Komm, es geht los!«
    Ich glaube nicht, dass hier irgendwas losgeht, denn der Hauptdarsteller dürfte inzwischen bewusstlos in seinem Versteck liegen, aber ich weiß nicht, wie ich das alles erklären, geschweige denn aufhalten soll, also lasse ich mich in einer Art verzweifelter Resignation von meinem Vater mit in die Aula schleppen. Judith und Una haben uns Plätze freigehalten, ganz weit vorne, wie ich es Anoki versprochen hatte. Bevor ich mich hinsetze, durchzuckt mich ein letztes Mal rasende Panik, und ich mache einen Ausbruchversuch. Verdammt, ich muss Anoki finden! Er braucht einen Notarzt! Aber Judith packt mich mit unweiblicher Härte am Handgelenk und zieht mich unerbittlich auf meinen Stuhl.
    »Hör jetzt endlich auf, dich lächerlich zu machen«, zischt sie mir zu. Offensichtlich hat sie den Ernst der Lage nicht erfasst. Wie auch immer – jetzt kommt der Schuldirektor auf die Bühne, und das Event wird mit ein paar einleitenden Worten eröffnet.

 
 
108
    Anoki lebt. Er steht sogar noch aufrecht. Gleich nachdem der Vorhang sich geöffnet hat, kann ich mich von seiner Unversehrtheit überzeugen, und wenig später dann auch von seinem wirklich unfassbaren Talent: noch nie habe ich einen Schauspieler so in seiner Rolle

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