Herzbesetzer (German Edition)
aufgehen sehen.
Dennis und Ethel sind zwei angepasste kleine Streber, von den Eltern zu schulischen Höchstleistungen gedrillt. Anoki trägt ein weißes Hemd, eine Weste und sogar einen grässlichen, gestreiften Schlips. Seine kompromittierende Haarflut verbirgt er unter einer spießigen Tweedkappe. Er sieht komplett anders aus als sonst und trotzdem hinreißend. Ich würde auch dann noch den Boden unter seinen Füßen küssen, wenn das sein Alltagsgesicht wäre. Diese Ausstrahlung! Dieser Schmerz in seinem Blick, als er den Eltern eine Zwei plus präsentieren muss und dafür getadelt wird! Dieses Lächeln, als Ethel ihn später aufzumuntern versucht! Und die ganze Zeit agiert er auf der Bühne so unaufgeregt, als sei sie sein Wohnzimmer. Er hat ganz zu Anfang einen flüchtigen Blick über das Publikum schweifen lassen (ich bilde mir ein, dass er mich gesucht hat, und wir hatten kurz Augenkontakt), seither ignoriert er meisterhaft die Tatsache, dass er von rund fünfhundert Menschen angegafft und außerdem fürs Lokalfernsehen gefilmt wird. Seinen Text spricht er, als kämen ihm die Worte gerade eben in den Sinn, er verhaspelt sich kein einziges Mal.
Seine jungen Kollegen sind nicht ganz so souverän. Da merkt man die Nervosität, da gibt es mal einen kurzen Durchhänger, oder jemand verpatzt seinen Einsatz. Das Mädchen, das Anokis Mutter spielt, rutscht auf dem glatten Bühnenboden aus, kann sich gerade noch abfangen und kriegt einen feuerroten Kopf. Aber was soll’s, ich meine, das ist eine Schüleraufführung – außer Anoki lauter Laiendarsteller. Ich bin nicht übermäßig kritisch, weil ich sowieso kaum auf die anderen achte. Für mich sind sie lediglich Requisiten, die den Glanz und die Aura des Topstars umrahmen.
Ich nehme an, dass Anokis überwältigende Gelassenheit nicht zuletzt auf das Konto meiner Tabletten geht. Schließlich weiß ich am allerbesten, wie sie wirken. Aber er muss zu meiner Überraschung klug genug gewesen sein, sie nicht alle acht zu verdrücken, sonst könnte er jetzt nicht so temperamentvoll mit Ethel über den besten Fluchtweg streiten, und seine Aussprache wäre nicht so klar und deutlich, dass man ihn auch noch in der hintersten Sitzreihe versteht. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Er spielt überwältigend gut. Wenn ich nicht gerade schwindlig vor Bewunderung an seinen Lippen hänge, mache ich Fotos. Blitzlicht ist während der Aufführung nicht erlaubt, aber ich habe ja nicht umsonst eine richtig teure, richtig gute Kamera, und die Bühne ist gut ausgeleuchtet. Ich habe ein kleines Taschenstativ dabei, so kann ich auch etwas längere Belichtungszeiten wählen, und mit meinem Teleobjektiv kann ich mir Anoki bis zum Anfassen heranholen. Er ist fast ohne Unterbrechung im Einsatz, es gibt nur zwei, drei kurze Szenen ohne ihn. Eine unvorstellbare Textmenge, die er bewältigen muss. So viel redet er sonst höchstens, wenn er mit mir telefoniert. Ich hätte ihm, wenn ich ganz ehrlich sein soll, nicht zugetraut, dass er so viel Lernstoff in sein anmutiges Köpfchen kriegt.
In der Pause verkaufen Schüler vor der Aula Kuchen und Saft. Ich gebe Judith, Una und meinem Vater eine Runde aus, und gerade als ich ihnen die Pappteller mit selbst gebackenem Kirschkuchen überreicht habe, sagt eine sehr vertraute Stimme hinter mir: »Er spielt wirklich gut.«
Ich drehe mich um und starre meine Mutter sekundenlang an, bis ich die Sprache wiederfinde.
»Was machst du denn hier?«, rutscht es mir heraus. Noch ehe sie antwortet, werfe ich einen schnellen Blick zu meinem Vater, der diese Erscheinung ebenso ungläubig mustert wie ich.
»Tja, ich wusste doch, dass heute der große Tag ist«, erklärt meine Mutter, »und wie wichtig das für Anoki ist.«
Wie wichtig? Was ist denn das für ein scheinheiliges Gesülze? Wichtig wären für ihn eine intakte Familie, Zuwendung und Verständnis! Warum macht meine Mutter mich immer so unfassbar wütend? Ich würge an den ungesagten Erwiderungen herum und taste automatisch in meiner Jackentasche nach den Tabletten, ehe mir einfällt, dass Anoki, der Verräter, sie mir geraubt hat.
»Das hier ist Judith, meine Verlobte«, sage ich stattdessen und zerre Judith herbei wie ein schüchternes Kind, »und das ist ihre Tochter Una.«
Alle schütteln einander artig die Hände, und ich merke, dass meine Mutter aus dem Konzept geraten ist. Ich und eine Verlobte? Was ist denn das wieder für eine Schnapsidee? Nur zu gerne würde ich hinzufügen:
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