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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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dass ihm die Frage auf der Seele liegt. Ich überlege einen Moment lang, ob ich ihn mit irgendeinem erfundenen monströsen Ritual verarschen soll, entscheide mich dann aber dagegen.
    »Bleib mal ganz entspannt«, empfehle ich ihm. »Wir essen gemeinsam, dann werden die Kerzen am Weihnachtsbaum angezündet, und dann tauschen wir ein paar Geschenke aus. Früher mussten Benni und ich noch singen, aber da waren wir noch viel kleiner. Hey, du bist sozusagen Gast. Von dir wird gar nichts verlangt, okay? Bleib einfach die ganze Zeit an meiner Seite und mach, was ich mache. Zum Dank für meine Unterstützung kannst du mich mit kostbaren Geschenken überhäufen.«
    Er nickt. »Alles klar. Ich bin letzte Woche fast jeden Tag im Kaufhof klauen gegangen.«
    Hm, jetzt bin ich mir nicht sicher, ob er mich verarscht. Wahrscheinlich nicht. Wovon sollte er schließlich Geschenke kaufen? Offenbar haben sie ihn im Heim mit Taschengeld ziemlich kurzgehalten, oder er hat immer alles für Zigaretten und Dope rausgehauen. Ich hab gestern gesehen, wie er seinen Rucksack ausgepackt hat – mit den paar Sachen käme ich nicht mal ein Wochenende lang aus, und alles war total abgenutzt und verwaschen. Gut, dass ich ihm diese Sweatjacke gekauft habe. Er kann’s echt gebrauchen.
    Der Glühwein hat’s ganz schön in sich. Mir wird heiß und ein bisschen schwindelig, und ich werde müde. Als ich meinen Becher geleert habe, stelle ich ihn auf meinen Nachttisch, strecke mich lang auf meinem Bett aus und schlafe fast augenblicklich ein, ohne mich daran zu stören, dass Anoki neben mir sitzt. Es ist nur ein kurzes Nickerchen, eine Viertelstunde oder so. Ich wache davon auf, dass er mir Rauch ins Gesicht bläst, und der riecht keineswegs nur nach schlichtem Zigarettentabak. Während ich mir noch blinzelnd die Augen reibe, hält er mir mit einem pfiffigen Lächeln die Tüte hin. Ich nehme einen Zug und hebe zwanzig Zentimeter von der Matratze ab. »Uff, wie viel Pfund hast du denn da reingepackt?«, ächze ich, und er sagt grinsend: »Das ist die Weihnachtsedition, Alter.«
    So kommt es, dass wir wenig später vollkommen bedröhnt zum festlichen Heiligabendessen nach unten schweben. Meine Eltern sind in Drogenangelegenheiten ziemlich unbedarft und schöpfen keinen Verdacht, obwohl sie sich sicher wundern, warum wir dauernd an unpassenden Stellen kichern und einen derart exzessiven Appetit an den Tag legen, dass kaum etwas von der Champignoncremesuppe übrig bleibt, ebenso wenig wie von dem Wildschweinbraten mit Klößen und Rotkohl, dem Tiramisu und den geeisten Früchten. Auch die ganze anschließende Besinnlichkeit geht fast schmerzfrei an uns vorüber. Wir müssen uns nur ansehen, um schon wieder loszuprusten wie die Fünfjährigen, und es stört mich kein bisschen, dass meine Mutter unsere einvernehmliche Albernheit eifersüchtig beobachtet.
    Diesmal bleiben wir noch unten, nachdem meine Eltern schlafen gegangen sind. Wir schaffen ein bisschen Ordnung in der Küche, sammeln das überall verstreute Geschenkpapier und die Schleifenbänder ein, stellen die leeren Gläser in die Spülmaschine und holen uns jeder noch einen Becher Glühwein. Damit setzen wir uns ins nur von Kerzenlicht erhellte Wohnzimmer und streiten darüber, ob wir den Fernseher anmachen (mein Vorschlag) oder Musik hören sollen (Anokis Votum). Am Ende lasse ich ihn gewinnen. Er hat mir eine CD geschenkt, die er sich wahrscheinlich am liebsten selbst gekauft (oder geklaut) hätte, und die will er jetzt hören. Irgendeine abgefahrene Postpunk-Compilation, die meisten Namen auf dem Cover sind mir völlig unbekannt. Er dreht die Anlage so laut, dass die Wände wackeln, und es kostet mich ziemlich viel autoritäres Gehabe, ihn auf eine heiligabendkompatible Lautstärke einzupegeln. Leicht eingeschnappt legt er die Füße auf den Couchtisch, umklammert seinen Glühweinbecher mit beiden Händen und hört ein paar Minuten nur schweigend Musik.
    Dann sagt er: »Wie war das denn so, ich meine, die letzten Minuten mit deinem Bruder? Habt ihr auch Musik gehört im Auto? Habt ihr gequatscht?« Danach hat mich noch nie jemand gefragt. Ich habe alles noch ganz genau in Erinnerung, jedes Detail, und es ist befreiend, das mal erzählen zu können. Bisher haben immer alle einen Riesenbogen um dieses Thema gemacht, als sei es etwas Unanständiges.
    »Benni war genauso müde wie ich«, sage ich. »Die ersten ein, zwei Kilometer war er noch ein bisschen aufgedreht und hat mir gesagt, wie toll er das

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