Herzbesetzer (German Edition)
sämtliche Emotionen unterdrücken, den gehorsamen schuldigen Sohn spielen und außerdem für Anoki so eine Art Babysitter abgeben. Meine Eltern sorgen dafür, dass ich mich viel mit ihm beschäftige. Ich soll mit ihm Karten spielen, am See spazieren gehen, seine Klamotten in den Kleiderschrank räumen und das Fernsehprogramm auswählen. Zeitweise komme ich mir vor wie ein Au-pair-Junge, falls es so was gibt.
Dabei scheinen meine Eltern davon auszugehen, dass wir es hier mit einem Achtjährigen zu tun haben, und Anoki lässt sie auch skrupellos in diesem Glauben, während er sich, sobald er mit mir alleine ist, eher wie ein Achtzehnjähriger aufführt oder das zumindest versucht. Im Großen und Ganzen lasse ich ihn, aber als er sich die dritte Flasche Bier einverleiben will oder mir vorschlägt, noch zum Jugendfreizeitzentrum zu fahren, sobald meine Eltern eingeschlafen sind, ziehe ich die Bremse. Er ist dann kurzfristig bockig, merkt aber sehr schnell, wie unglaublich egal mir das ist, und dann wird er wieder zahm.
Inzwischen geht Anoki sogar mit mir zum Friedhof, wo ich minutenlang schweigend an Bennis Grab stehe und die Blumen ablege, die ich jedes Mal mitbringe. Ich weiß nicht, warum er mich begleitet, denn ich bin alles andere als unterhaltsam. Er beobachtet mich stumm, wie ich den Grabstein anstarre und trauere, und macht sich irgendwelche Gedanken. Einmal sagt er auf dem Rückweg: »Ich glaub, meine Eltern sind auch tot.«
Ich frage ihn, wie er darauf kommt, und er sagt: »Ich hab ganz oft drüber nachgedacht, warum die plötzlich weg waren. Gibt eigentlich nur eine Erklärung: Die sind überfallen worden. Jemand hat die in ihrem Auto überfallen und ausgeraubt, und dann mussten die entweder selbst wegfahren und wurden dann umgebracht, oder der hat die gleich an Ort und Stelle gekillt und das Auto dann irgendwo verschwinden lassen. Das wurde nämlich auch nie wiedergefunden, weißt du. Gibt doch so Leute, die an Raststätten Autofahrer überfallen, oder?«
Ja, sicher – die gibt es bestimmt. Und auch wenn Anokis Eltern mit Sicherheit schon von Weitem anzusehen war, dass es bei ihnen nicht viel zu holen gab, so könnte an dieser Theorie doch etwas dran sein. Mir ist aber auch klar, dass Anoki damit in erster Linie eine Rechtfertigung für ihr Verschwinden sucht, die nichts mit ihm persönlich zu tun hat. Er will nicht, dass seine Eltern ihn bewusst und aus freiem Willen zurückgelassen haben, was ich gut verstehe – und was ein ziehendes Gefühl des Mitleids in mir auslöst.
»Das klingt ziemlich überzeugend«, sage ich. »Du hättest bestimmt auch gern ein Grab, an dem du trauern kannst, was?« Anoki guckt auf seine Schuhe und zuckt mit den Schultern.
Meinen Eltern gegenüber ist er nach wie vor höflich, schweigsam und aufgrund seiner scheinbaren Gleichgültigkeit auch distanziert. Ich merke, dass meine Mutter immer verbissener versucht, seine Maske zu durchbohren. Aber sie redet irgendwie an ihm vorbei, sie behandelt ihn wie ein Kind, und das lässt ihn dichtmachen. Mein Vater hat eine unüberwindbare Scheu vor Anoki. Er weiß nicht, worüber er mit ihm reden soll, und beobachtet ihn manchmal von der Seite wie ein rätselhaftes, möglicherweise gefährliches Tier. Ich bin der Einzige, dem Anoki sich öffnet – wahrscheinlich weil ich mich am wenigsten für ihn interessiere.
Am Abend des zweiten Weihnachtstags beginnt es zu tauen, und am nächsten Morgen um halb acht klopft Anoki an meine Tür. Während ich mich aus einem wirren Traum von einem verpassten Bus zu kämpfen versuche, teilt er mir mit, dass der Schnee geschmolzen sei.
»Na und? Verpiss dich! Ich hab nicht gesagt, dass du mich mitten in der Nacht wecken sollst, um mir den Wetterbericht zu verlesen!« Es ist ja noch nicht mal hell draußen. Aber Anoki ist so beharrlich wie eine Wespe im Biergarten.
»Du hast doch gesagt, hier gibt’s ’ne Skaterbahn! Ich weiß aber nicht, wo die ist!«
»Hör zu«, sage ich leise und gefährlich. »Ich zähle bis drei. Wenn du bis dahin nicht aus meinem Zimmer verschwunden bist, stecke ich dein Scheißskateboard in den Kamin. Und solltest du mich vor halb zehn noch mal stören, schieb ich dir außerdem noch die glühende Asche in den Arsch. Eins … zwei …« Anoki zieht ab und knallt meine Zimmertür hinter sich zu. Ich drehe mich lächelnd auf den Rücken, strecke mich und verschränke die Hände hinter dem Kopf. Macht und Überlegenheit sind irgendwie sexy.
Versteht sich ja wohl von selbst,
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