Herzbesetzer (German Edition)
nicht.«
Klar, dass Anoki nicht lockerlässt. »Und warum bist du dann abgehauen«, bohrt er weiter. Er verbirgt seine Verletztheit hinter diesem leicht genervten Tonfall.
Meine Mutter legt ihr Brötchen auf dem Teller ab, faltet die Hände im Schoß und sagt: »Weil ich einfach nicht mehr konnte. Das war mir alles zu viel. Ich weiß, dass ihr das nicht versteht« – dabei sieht sie mich an, um zu signalisieren, dass ich derjenige bin, der sie am allerwenigsten versteht und die gesamte Familie gegen sie aufgehetzt hat –, »aber ich war wohl noch nicht so weit. Benni …« Sie schluckt und setzt noch mal an: »Benni ist noch überall.« Wieder wirft sie einen kurzen Blick zu mir rüber – seht alle hin, da sitzt der Mörder –, dann isst sie weiter.
Ich ringe nach Luft. Mag sein, dass ich überempfindlich bin, aber was ich zwischen ihren Worten herausgehört habe, ist, dass letztlich alles meine Schuld ist. Sie hat Bennis Tod noch nicht überwunden, deshalb konnte sie Anoki keine gute Mutter sein – ja, aber die Ursache für die Misere bin ich. Jeder in dieser Familie kann tun und lassen, was er will, kann Menschen im Stich lassen und verletzen und sich klammheimlich verpissen, weil es nur einen einzigen Schuldigen gibt: mich. Wenn es stimmt, dass Benni hier noch überall ist, müsste er sie jetzt vom Stuhl schubsen. Oder mir wenigstens tröstend über den Kopf streicheln. Aber Benni ist weg. Er ist mausetot, er kommt nicht mehr wieder, und er möchte auch garantiert nicht als Entschuldigung für alle möglichen Formen von Fehlverhalten herhalten. Und ebenso wenig möchte ich für den Rest meines Lebens als Sündenbock missbraucht werden.
Ich springe auf, so dass mein Stuhl heftig ins Schwanken gerät, und renne hoch ins Bad, wo ich mich einschließe und aufgewühlt mein Spiegelbild anstarre.
Von unten dringen erregte Stimmen zu mir hoch. Da scheint ein Streit ausgebrochen zu sein. Kurz darauf klopft es an der Tür.
»Julian, ist alles in Ordnung? Darf ich reinkommen?«, fragt Judith.
Eigentlich nicht. Aber ich will sie auch nicht vor den Kopf stoßen, also schließe ich auf und lasse sie rein.
Sie umarmt mich und fragt: »Was hast du denn? Wegen Benni?«
Ich kann ihr das nicht erklären, diese ganze subtile Schuld-und-Sühne-Dynamik bei Trojans, das ist viel zu kompliziert. Meine Mutter hat ja nichts gesagt – nur geguckt und impliziert. So was kann man einem Unbeteiligten nicht vermitteln, ohne sich lächerlich zu machen.
»Ach, egal«, schnaufe ich. »Geht schon wieder.« Was gelogen ist. Unten herrscht immer noch Terror. »Was ist da los?«, will ich wissen.
»Anoki streitet sich mit deiner Mutter«, erklärt Judith.
»Scheiße«, flüstere ich. Ich müsste jetzt runtergehen und das irgendwie in Ordnung bringen, aber dazu bin ich im Moment nicht in der Lage.
»Lass mal«, sagt Judith verblüffend hellsichtig, »du bist ja hier nicht für alles verantwortlich.«
Ich starre sie ungläubig an, dann ziehe ich sie fest an mich und denke ernsthaft darüber nach, ob ich ihr sagen soll, dass ich sie liebe.
Das geräuschvolle Zuschlagen der Haustür lässt den Boden unter unseren Füßen erbeben. Ich schrecke zusammen, und Judith löst sich widerstrebend aus meiner Umarmung.
»Einer von beiden ist jetzt abgehauen«, vermutet sie. »Ja, und ich weiß auch wer«, erwidere ich, da ich meine Mutter noch nie eine Tür habe schlagen hören. Ich renne die Treppe runter. Meine Mutter sitzt verheult am Esstisch, mein Vater hockt ihr zusammengesunken gegenüber und sieht aus, als wolle er sich in Luft auflösen, und Una kräht mir beinahe fröhlich entgegen: »Anoki ist stinksauer! Der kommt so bald nicht wieder!« Vielleicht hält sie das Ganze für eine Familienserie aus dem Vorabendprogramm. Für mich ist es das jedenfalls nicht.
»Was war denn hier los?«, frage ich und versuche, meine Mutter streng anzusehen, aber sie weicht meinem Blick aus.
»Anoki hat gesagt, sie ist ’ne verlogene alte Kuh«, erklärt Una bereitwillig.
Judith ist kurz nach mir heruntergekommen und wirft Una einen ärgerlichen Blick zu: »Jaja, jetzt halt du dich mal raus!«
»Wieso? Er hat doch gefragt«, beharrt Una.
Ich hab keine Lust auf weitere Verwicklungen. Lieber geh ich mal wieder den entsprungenen Tiger suchen. Seufzend schnüre ich meine Sneakers zu.
111
Instinktiv weiß ich, dass Anoki zum See geflüchtet ist, und ich marschiere so zielstrebig ans Ufer, als folgte ich der Stimme aus einem
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