Herzbesetzer (German Edition)
Tabletten heraus, eine für ihn, eine für mich. Wir schlucken sie trocken runter, lächeln einander tapfer zu und gehen zum Parkplatz.
Der Rest der Familie hat beschlossen, dass wir alle zusammen essen gehen, um Anokis Erfolg zu feiern. Meine Mutter schließt ihren im Stich gelassenen Pflegesohn mit weitaus mehr Herzlichkeit in die Arme, als sie mir erwiesen hat, und ich ersticke mühsam eine scharfe Flamme der Eifersucht, als Anoki sie ebenfalls heftig umarmt. Warum kann der kleine Wichser nicht mal ein kleines bisschen nachtragend sein? Wenigstens ihr gegenüber? Doch diesen spontanen Gedanken relativiere ich wieder – schließlich ist das gerade eine der Eigenschaften, die ich an ihm so liebe. Während Anoki in den Lobeshymnen der anderen badet und immer wieder Gratulationen von wildfremden Leuten entgegennimmt, warte ich abseits, an Judiths Auto gelehnt, kämpfe gegen allerhand unerwünschte Regungen an und sehne mich danach, mit meinem kleinen geliebten Bruder allein zu sein.
Wir lassen die Autos stehen und wandern über den Wall zum Restaurant Tempelgarten, wo wir einen Tisch auf der Terrasse besetzen. Es ist ein milder Abend voller mediterraner Düfte, noch nicht ganz dunkel, aber erste Sterne blitzen schon auf. Anoki ist trotz meiner Downers, wie er sie nennt, total aufgedreht und plappert, ohne Luft zu holen. Er lacht mehr als gewöhnlich. Die extreme Spannung der Premiere löst sich, und sein Erfolg berauscht ihn. Immer wieder lässt er sich schildern, wie bestimmte Szenen auf das Publikum gewirkt haben, und unermüdlich berichtet er über seine Gedanken und Empfindungen oben auf der Bühne. Ich rede nicht viel (komme ja kaum zu Wort), sondern beobachte ihn und sauge die sprühende Schönheit seiner Freude in mich auf. Ich wünschte, ich könnte diesen Augenblick konservieren, in eine Flasche füllen und ihm später, wenn es ihm mal schlecht geht, schluckweise davon zu trinken geben. Anoki ist ein magnetischer Funke, der jeden Einzelnen auf dieser Terrasse einschließlich der Bedienung verzückt und verzaubert. Er strahlt heller als sämtliche Sterne über uns. Ich will ihn küssen, o Gott – ich will ihn so sehr.
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Meine Mutter war taktvoll genug, bei ihrer Freundin zu übernachten, obwohl ich das andererseits idiotisch finde. Ich meine, da kommt sie zurück nach Neuruppin und schläft nicht in ihrem eigenen Haus? Ach, ich weiß auch nicht. Das ist eine bescheuerte Situation, und ich wünschte, es wäre nicht ausgerechnet mein Leben, in dem sie stattfindet. Schließlich hab ich genug damit zu tun, Judith und Una angemessen einzuquartieren. Die einfachste (und von mir bevorzugte Lösung) wäre gewesen: Judith und Una schlafen in meinem Zimmer, und ich krieche zu Anoki ins Bett. Aber ich hab mich nicht getraut, das vorzuschlagen. Also teilen Judith und ich uns mein Zimmer, und für Una legen wir bei Anoki eine Matratze rein, obwohl dieser das nicht gerade prickelnd findet. (Una schon.) Ich denke an den bevorstehenden Urlaub und beiße die Zähne zusammen.
Zum Frühstück kommt meine Mutter nach Hause und bringt frische Brötchen sowie die Samstagsausgaben der Lokalzeitungen mit. In beiden finden sich ausführliche, enthusiastische Berichte über die Theateraufführung an der Puschkin-Schule, beide haben Farbfotos abgedruckt, auf denen Anoki in Aktion zu sehen ist, und beide erwähnen ausdrücklich seinen Namen und seine herausragende Leistung. Das geht meinem kleinen Tiger runter wie Öl. Trotzdem brauche ich nicht zu fürchten, dass er einen Höhenkoller kriegt: allzu viel Lob scheint ihm peinlich zu sein, und er wiegelt ab mit Bemerkungen wie »Ach, so schwer war das ja nicht, hat mir eben einfach Spaß gemacht« oder »Hähä, wenn ihr wüsstet, wie oft ich meinen Text vergessen und einfach irgend’n Scheiß erzählt hab!« Dafür registriere ich besorgt, dass die Anwesenheit meiner Mutter ihn stärker irritiert, als er zeigen will. Er guckt sie immer wieder schräg von der Seite an, und ich kann mir vorstellen, was er dabei denkt: Warum hast du mich verlassen!?
Einmal entsteht in unserer Unterhaltung bei Tisch eine kleine Pause, weil alle mit der Nahrungsaufnahme beschäftigt sind, da fragt er sie: »Was ist denn nun, hast du jetzt ’n anderen oder was?«
Meine Mutter zuckt zusammen, mein Vater starrt gequält auf seinen Teller, Judith guckt mich an, Una guckt bewundernd Anoki an.
Es vergehen ein paar Sekunden der Höchstspannung, ehe meine Mutter antwortet: »Nein. Hab ich
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