Herzbesetzer (German Edition)
»Und das ist dein Mann, erinnerst du dich noch?«, aber ich möchte jetzt keinen Familienstreit heraufbeschwören – um Anokis Tag nicht zu gefährden. Auch ohne meine Frechheiten finden meine Eltern in einer unbeholfenen Umarmung zueinander. Wie Geschwister, die sich lange nicht gesehen haben.
»Weiß Anoki, dass du hier bist?«, frage ich meine Mutter.
»Nein. Ich bin erst kurz vor der Aufführung gekommen. Hatte leider keine Zeit mehr, ihn vorher zu begrüßen«, erwidert sie.
Was für ein Glück, denke ich. Hoffentlich entdeckt er sie nicht, bevor das Theaterstück vorüber ist. Ich habe meine Mutter seit Wochen nicht mehr gesehen, war überhaupt nicht auf eine Begegnung mit ihr vorbereitet und bin, wie ich feststelle, sehr verletzt von ihrer kühlen, beiläufigen Art. Warum zum Henker kann sie mich nicht ein Mal wie einen Familienangehörigen begrüßen statt wie einen flüchtigen Bekannten? Während das Publikum wieder in die Aula zurückströmt, nimmt Judith meine Hand und guckt mich besorgt an.
»Alles okay?«, fragt sie leise.
»Nicht wirklich«, sage ich, aber das ist jetzt weder die Zeit noch der Ort, um das ausführlich zu begründen. Also drücke ich nur ihre liebevolle Hand und füge hinzu: »Reden wir nachher darüber, ja?«
Sie nickt und guckt immer noch besorgt.
109
Auch die zweite Hälfte der Aufführung lässt keinen Zweifel an Anokis Starqualitäten. Es gibt ein paar sehr witzige Szenen, in denen er dem Publikum durch seinen trockenen Humor Lachtränen in die Augen treibt. Sogar der Kameramann von Ruppin TV, der direkt neben unserer Sitzreihe steht, kichert in sich hinein. Ich bin so stolz auf den talentierten Bengel, dass ich am liebsten auf die Bühne springen und schreien würde: »Das ist meiner!«
Nach dem letzten Akt gibt es einen rasenden Applaus. Wie gewöhnlich kommen alle Schauspieler vor den Vorhang, fassen sich an den Händen und verbeugen sich, und dann noch mal jeder einzeln. Als Anoki auf die Bühne kommt, stehen die Leute auf, trampeln mit den Füßen und stoßen alle möglichen Begeisterungsschreie aus, Hauptsache laut. Judith wischt sich verstohlen eine Träne weg.
Anoki steht lächelnd da, hebt lässig den Arm, und kurz bevor er sich umdreht, um wieder hinter den Vorhang zu joggen, zwinkert er mir zu. Das hab ich mir nicht eingebildet, wirklich.
Ich fühle mich wie ein Groupie, als ich aus dem nach draußen drängenden Menschenstrom ausbreche und einen Haken in Richtung Schülergarderobe schlage. Diesmal rühre ich die Türklinke nicht an, sondern warte brav draußen, denn ich will diesen Lehrerzerberus nicht ein drittes Mal in Zorn versetzen.
Judith und Una sind schon mit meinen Eltern zum Parkplatz gegangen, aber ich will Anoki als Erster in Empfang nehmen und ihm ohne familiäre Beobachtung meine namenlose Bewunderung ausdrücken. Ab und zu öffnet sich die Tür des umfunktionierten Klassenraums und spuckt den einen oder anderen Nebendarsteller aus. Anoki ist der Fünfte oder Sechste, der rauskommt. In seinen schrillen Skaterklamotten, mit Nietenhalsband, Piercing und den ungebändigt herabströmenden Dreadlocks hat er mit Dennis nicht mehr viel gemeinsam, abgesehen von diesem strahlenden Lächeln. Ohne Scheu vor der Handvoll Menschen, die uns zusehen, springt er mir in die Arme, und ich drücke ihn minutenlang wortlos an mich.
»Du warst unbeschreiblich«, sage ich ihm ins Ohr, nachdem ich meine Stimme wieder im Griff habe. »Ich bin so stolz auf dich, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
Anoki lächelt selig. »Findest du? Aber einmal hab ich ’nen Blackout gehabt. Da hab ich einfach improvisiert.«
»Echt? Das hat keiner gemerkt. Hast du gehört, was für einen Applaus du gekriegt hast? Standing ovations!«
Er nickt, als wäre er high. Ich führe ihn raus Richtung Parkplatz, ohne den Arm von seinen Schultern zu nehmen.
Unterwegs fällt mir ein: »Ach so – wegen der Tabletten versohl ich dir zu Hause den Arsch, erinner mich bitte dran.«
Er senkt schuldbewusst den Kopf und fischt den Blister aus seiner Hosentasche. Zwei Kapseln fehlen. Ich atme erleichtert auf.
»’tschuldigung«, sagt Anoki beschämt. »Aber du hättest mir die doch nie im Leben freiwillig gegeben, und ich war sooo aufgeregt.«
Ich bleibe stehen und sage: »Ähm … vielleicht solltest du noch eine nehmen. Da draußen wartet eine Überraschung auf dich.«
Anoki guckt erschrocken. »Meine Mutter«, erkläre ich.
Er wird blass. Schweigend drücke ich zwei weitere
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