Herzbesetzer (German Edition)
dieser Autobahnraststätte. Vermutlich hat er unbewusst eine Parallele zwischen sich und Sarah gesehen, und vielleicht denkt er jetzt, ich bin auch so einer, der andere einfach nach Belieben hinter sich lässt. Und es stimmt: ich bin so einer.
Am nächsten Tag geht Anoki mir aus dem Weg. Das fällt mir nicht sofort auf, schließlich hab ich was Besseres zu tun, als jede einzelne seiner Handlungen zu beobachten und zu analysieren. Ich realisiere das erst nach dem Mittagessen, als er sich sein Skateboard schnappt und damit das Haus verlässt, ohne mir was zu sagen. Eigentlich hatte ich angenommen, dass ich heute wieder mit ihm zur Skaterbahn fahre – ich hab nichts anderes vor, meine Eltern erwarten, dass ich mich um Anoki kümmere, und nachdem er dort gestern so dermaßen abgegangen ist, will er ja bestimmt am liebsten jeden Tag hin. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, bin ich gerade dabei, die Spülmaschine einzuräumen. Nachdem das erledigt ist, suche ich meine Mutter und finde sie im Keller, wo sie sich an Benjamins Sachen zu schaffen macht.
»Weißt du, wo Anoki ist?«, frage ich möglichst beiläufig.
»Er wollte sein Skateboard ausprobieren«, sagt sie. »Ich hab ihm gesagt, er soll zum Parkplatz hinter dem Oberstufenzentrum gehen.« Da wird mir klar, dass der kleine Scheißbengel ganz bewusst einen Bogen um mich gemacht hat. Ich fühle mich unsinnigerweise hintergangen, so als ob ich zur Skateanlage gewollt hätte und nicht er. Was soll das jetzt? Warum ist es mir nicht einfach gleichgültig, was Anoki tut und lässt? Ich sollte die Zeit genießen, in der ich nicht den Babysitter spielen muss, und ein Mittagsschläfchen machen.
Stattdessen gehe ich hoch ins Bad, nehme eine von meinen Tabletten und frage mich, ob ich in Anokis Gunst gesunken bin. Aus dem Spiegel starrt mich ein Typ an, der noch fast genauso aussieht wie vor fünf Jahren. Keine Geheimratsecken, keine ersten Falten oder Tränensäcke, sondern ein relativ durchschnittliches, sympathisches Milchgesicht, das bei Frauen Muttergefühle weckt und bei Männern keinen Konkurrenzneid aufkommen lässt. Meine Mutter würde wohl anmerken, dass ich mir unbedingt die Haare schneiden lassen soll, aber mir gefällt dieser Neo-Sixties-Studentenlook mit den langen Ponyfransen, die meistens über die Augen fallen.
Ich weiß natürlich, dass unter dieser scheinbar unveränderten Hülle eine Menge anders geworden ist, seit Bennis Blut an meinen Händen klebte. Das ist keine Redensart – es war tatsächlich so. An meinen Händen und überall sonst. Irgendein scharfes Metallteil hatte ihm die Halsschlagader aufgerissen. Jedenfalls bin ich seither nicht mehr wirklich Julian Trojan, sondern ein scheußlicher Zombie, jemand, den ich früher garantiert nicht zu meinem Freund gemacht hätte, jemand, der wahllos Frauen und manchmal auch Männer aufreißt, sie zu seinem persönlichen Vergnügen benutzt und danach entsorgt, jemand, der sich verstellt und eine Rolle spielt, um sich Vorteile zu verschaffen. Und aus irgendeinem Grund habe ich wohl gehofft, Anoki würde das nicht merken. Oder besser noch: es cool finden.
15
Obwohl Anoki schon am nächsten Tag wieder erheblich zutraulicher ist und mir beinahe mit derselben Anhänglichkeit hinterherdackelt wie zuvor, hat sich irgendetwas verschoben in unserem Verhältnis zueinander, und ich kann nicht behaupten, dass ich das gut finde, aber es ist mir auch nicht möglich, dagegen anzukämpfen. Offensichtlich bedeutet mir dieser mangelhaft sozialisierte Kleinkriminelle mehr, als ich zunächst angenommen habe (und als ich zulassen wollte).
Ich fahre wieder mit ihm zur Skateanlage. Während er mit wachsender Geschicklichkeit alle möglichen Tricks einübt, fällt mir plötzlich auf, dass meine Eltern vergessen haben, ihm die passende Schutzausrüstung zu schenken. Er hat weder Knie- noch Ellbogenschoner, aber bei der Waghalsigkeit, mit der er hier rumturnt, müsste er eigentlich so eine Art American-Football-Ganzkörperpolsterung tragen. Augenblicklich wird mir heiß, und ich pfeife ihn ran. Er rollt lässig auf mich zu und tut so, als hätte er sowieso gerade herkommen wollen, wie das wohl jeder Vierzehnjährige machen würde.
»Sofortiger Abbruch«, ordne ich an. »Wir haben was Wichtiges vergessen.«
»Echt? Hast du deine Medikamente nicht genommen oder so?«, erwidert er frech. Ich bin drauf und dran, ihm das Board unter den Beinen wegzukicken.
»So ähnlich«, sage ich dann, »mir ist gerade aufgefallen,
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