Herzbesetzer (German Edition)
dass du keine Gelenkschützer hast.«
Anoki reagiert genau so, wie ich es erwartet habe: er stöhnt, verdreht die Augen und macht kehrt. Das heißt: er versucht es. Aber natürlich bin ich immer noch einen Meter cooler als er, deshalb halte ich ihn an seiner Kapuze fest und bringe ihn fast zu Fall. Nachdem er sich wieder eingekriegt hat, packe ich ihn ins Auto, und wir fahren in die Stadt zu Sport Schlüter, wo wir seine Ausrüstung komplettieren. Er gibt sich betont bockig, womit er signalisieren will: Hey, ich brauch das Zeug nicht, aber dieser spießige Typ hier besteht darauf. Egal, da steh ich drüber. Wenn ich auf eins verzichten kann, dann ist das ein kleiner Ersatzbruder, der mit zerschmetterten Knochen neben der Halfpipe liegt.
Wir fahren zurück zur Skateanlage, wo inzwischen noch ein paar andere Kids ihre Runden drehen, und während ich frierend am Rand stehe und ihnen zusehe, freue ich mich im Stillen darauf, meinen Eltern bodenlose Verantwortungslosigkeit vorwerfen zu können, dass sie Anoki ohne Gelenkschutz auf die Straße gelassen haben. Sie haben natürlich keine Ahnung vom Skaten und wollten ihm einfach nur seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen. Aber wer fragt in unserer Familie schon nach den Motiven? Hier zählt nur der Fehler an sich, und der genügt, um einander fertigzumachen.
Früher – das bedeutet natürlich: zu Benjamins Lebzeiten – habe ich auch manchmal Fehler gemacht, aber damals konnte ich sicher sein, dass sie mir verziehen wurden. Ich habe in der Schule nicht wenige Prüfungen versiebt, ehe ich dann doch noch mein Abitur bekam, ich habe ein geliehenes Mofa zu Schrott gefahren, an der guten Kaffeekanne den Henkel abgebrochen, schwarzen Lack auf die Holztreppe tropfen lassen, beim Doktorspielen meine Cousine entjungfert, mit einem Fußball die Seitenscheibe des nachbarlichen Mercedes zertrümmert, ein Brandloch ins Sofa gemacht, die Unterschrift meines Vaters auf Bennis Zeugnis gefälscht und ein Klingelton-Abo für mein Handy abgeschlossen. Für all diese Fehler wurde ich fürchterlich ausgemeckert, manchmal kriegte ich auch Ohrfeigen. Aber irgendwann war alles wieder gut, meine Mutter nahm mich in den Arm, mein Vater ging mit mir angeln – vergeben und vergessen. Bis auf diesen einen, letzten Fehler.
Die anderen Jungs mustern Anoki von oben bis unten und halten sich betont von ihm fern. Zu mir gucken sie skeptisch rüber, vermutlich halten sie mich für einen pädophilen Spanner, und ich spiele mit dem Gedanken, meine Hose runterzulassen, um ihnen so einen richtigen mörderischen Schrecken einzujagen. Ich habe genügend Muße, deshalb kriege ich genau mit, wie Anoki ab und zu hoffnungsvoll in ihre Nähe rollt, aber es kommt keinerlei Kommunikation zustande. Zugegeben, er ist eine ganz schön skurrile Erscheinung für diese Kleinstadt. Allein schon die Dreadlocks, so was sieht man hier nicht alle Tage. Und dann seine abgeschabte Armeejacke mit diesen zahllosen feindseligen Buttons, das Nietenarmband und die schwarzen Kajalaugen. Er ist nicht unbedingt der Typ, zu dem man locker sagt: »Na, machst du hier Urlaub?« Ich habe Mitleid mit ihm, weil er mit Sicherheit gerne Kontakt zu Gleichaltrigen hätte. Ich meine, ständig nur von mir und meinen Eltern umgeben zu sein, muss ihm ja vorkommen wie die Vorstufe zum Seniorenheim. Wenigstens ist er auf dem Skateboard bereits so unglaublich fit, dass er mit einigen seiner Tricks bei der einheimischen Jugend widerwillige Bewunderung erntet, und ich bin so stolz auf ihn, als hätte ich sie ihm beigebracht.
Auf dem Rückweg im Auto fragt er mich: »Vermisst du eigentlich deine Freundin?«
»Och, na ja, ab und zu«, sage ich wahrheitsgemäß. Immerhin hatte ich seit gut einer Woche keinen Sex mehr. Aber ich bin gewarnt und werde mich höllisch zurückhalten mit irgendwelchen entwürdigenden Bemerkungen über Frauen.
»Hast du die denn schon mal angerufen?«, will Anoki wissen. Warum steckt er seine pubertäre Nase eigentlich dauernd in meine Angelegenheiten? Soll er sich doch die Bravo kaufen!
»Nee, weißt du, Reden ist nicht so unser Schwerpunkt«, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen. Trotz meiner guten Vorsätze. Und prompt spüre ich, wie die unsichtbare Mauer sich wieder zwischen uns aufbaut. Er guckt starr geradeaus und spricht kein Wort mehr mit mir, bis wir zu Hause sind. Ich wünschte, es wäre mir egal.
16
Ich hab mich ein bisschen hingelegt und bin gerade dabei wegzudämmern, als meine Mutter anklopft. Sie hat vor
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