Herzbesetzer (German Edition)
der Punkt«, sage ich. »Weißt du, was ich glaube? Sie sind viel zu naiv, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie haben einfach gedacht, auf diese Weise könnten sie die Lücke füllen. Und meine Mutter behandelt ihn wie ein Kind. Sie schnallt überhaupt nicht, dass er in seinem Leben schon ganz andere Dinge gesehen hat. Ich hab so das Gefühl, das Ganze steuert auf eine Katastrophe zu.«
»Aber vielleicht gefällt es ihm ja auch, so behandelt zu werden«, argumentiert Sven. »Könnte doch sein, dass er gar nicht so früh erwachsen werden wollte und sich gern noch mal ein paar Jahre betüddeln lässt, oder?«
Obwohl ich das nicht glaube, stelle ich fest, dass Sven ein Freund ist, der diese Bezeichnung verdient hat. Er denkt sich in jedes Thema rein, anstatt – wie die meisten anderen – nur von sich selbst zu reden. Ich mache dem Barkeeper ein Zeichen, dass er uns noch zwei Gläser Bier bringen soll.
»Weißt du, was komisch ist?«, sage ich dann. »Am Anfang hätte ich Anoki am liebsten gegen die Wand geklatscht. Ich meine, schon allein dieser Name! Und du müsstest ihn mal sehen, so ein richtiger Nachwuchs-Anarcho. Schon der Gedanke an ihn hat mich wütend gemacht. Aber jetzt …« Ich breche ab, weil ich nicht weiß, wie ich das formulieren soll, was ich empfinde. Sven wartet geduldig. »Jetzt erinnert er mich immer mehr an Benni«, sage ich, ohne ihn anzusehen. Trotzdem merke ich, dass er eine hastige Bewegung macht.
Bevor ich das ausgesprochen hatte, war es mir nicht bewusst. Aber nun ist es raus, und ich kann ebenso gut weiterreden. »Das ist schon auf eine Weise ein geiles Gefühl, plötzlich wieder einen kleinen Bruder zu haben. Als wenn jemand die Uhr zurückgedreht hätte. Ich meine, er ist natürlich total anders als Benjamin …«, erkläre ich schnell. »Völlig anders. Es ist mehr so diese Art der Verbindung … dass er mich ein bisschen bewundert und so. Und dass ich ihn besser verstehe als meine Eltern. Und dass wir Geheimnisse vor ihnen haben. So Sachen eben.«
Sven nickt. »Das wird dir ganz schön gefehlt haben«, vermutet er. Es ist der Alkohol in meinem Blut, der mich sagen lässt: »Ich muss besser auf ihn aufpassen. Dass ihm nichts passiert. Wenn an Anoki was drankommt, dann …« Dafür gibt es überhaupt keine Worte. Und außerdem ist das ein völlig besoffener Scheiß, den ich da rede. Ich wende mich den beiden Mädchen am Tisch hinter uns zu, die dauernd verstohlen zu uns rübergucken, und grinse der mit den brünetten Locken mitten ins Gesicht, und sie lächelt vorsichtig zurück, ehe sie schüchtern den Kopf senkt. O ja, das ist jetzt genau das Richtige: Hasenjagd.
Ich pflücke den hellblauen Slip von der Kopfstütze des Beifahrersitzes und drücke ihn Lea (oder heißt sie Lena?) in die Hand. »Hier, zieh dich mal an«, dränge ich. Sie versucht, mich zu küssen, aber ich drehe mein Gesicht weg.
»Komm, jetzt mach schon«, sage ich, »ich will nach Hause.«
Sie erstarrt für ein paar Sekunden, dann zieht sie sich mit müden Bewegungen an. Nicht ganz einfach in der Enge meines Autos. Ich wünschte, sie würde sich beeilen; mir ist jetzt nicht mehr nach Gesellschaft zumute. Endlich hat sie ihre Stiefel zugeschnürt und die Jacke übergestreift. Ich greife über sie hinweg und öffne die Tür auf ihrer Seite. »Komm gut nach Hause«, sage ich höflich.
Sie starrt mich ungläubig an. »Ich dachte, du fährst mich«, wagt sie zu sagen. Das bringt mich zum Lachen. »Hey, ich hab so viel getrunken, dass ich kaum noch stehen kann! Ich nehm mir ein Taxi.« Und mit einer unmissverständlichen Kopfbewegung bedeute ich ihr, endlich auszusteigen. Sie stolpert ohne Abschied hinaus in die Dunkelheit. Ich bleibe noch ein paar Minuten mit geschlossenen Augen in meinem Wagen sitzen, döse ein bisschen und koste das angenehme Gefühl sexueller Befriedigung aus. Dann tippe ich die Nummer des Taxidienstes in mein Handy.
17
Im Halbschlaf nehme ich eine Bewegung neben mir wahr, und etwas Weiches streift meine Wange. Hatte ich Lea (oder heißt sie Lena?) nicht weggeschickt? Sie ist ja doch noch da. Oder ist sie zurückgekommen? »Vergiss deinen Slip nicht«, murmele ich verschlafen. »Auf der Kopfstütze.«
»Den hab ich doch an«, sagt Anoki, und ich schrecke hoch. Verdammt! Was macht dieser impertinente Lümmel schon wieder in aller Frühe in meinem Zimmer? Oder besser gesagt: auf meinem Bett?
Er sitzt direkt neben mir, hat die Arme um die Knie geschlungen, verströmt einen frischen
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