Herzbesetzer (German Edition)
gebe zu, dass ich auf seine Anrufe warte, und wenn er aus irgendwelchen Gründen mal nicht dazu kommt, fühlt sich der Abend für mich leer und unbefriedigend an. So bin ich immer auf dem Laufenden, was die Geschehnisse in meinem Elternhaus angeht, und erfahre zum Beispiel, dass er in der Schule größere Schwierigkeiten hat als erwartet. Zum einen liegt das an seinen mangelhaften Leistungen, insbesondere in Deutsch und Geschichte, wobei Letzteres natürlich ausschließlich die Schuld seines Lehrers ist, der ihn mobbt und bei jeder Gelegenheit schikaniert. Dass er in Deutsch faul und unwillig ist, gibt er wenigstens zu. Rechtschreibung hält er für eine Art moderne Foltermethode, und der Sinn einer Textanalyse erschließt sich ihm nicht mal ansatzweise. Das kann er auch mit verblüffenden Argumenten belegen: »Ich schreib sowieso nie was, also ist das doch scheißegal, wenn ich Fehler mache!« oder »Also, entweder versteh ich ’nen Text, oder ich versteh den nicht. Und wenn ich den versteh, dann versteht den jeder – dann brauch ich den auch nicht noch mal nachzuerzählen, weil dann versteht den nämlich keiner mehr.«
Noch ein bisschen beunruhigender finde ich, dass er auch im Klassenverband kein Bein auf den Boden kriegt. »Das sind alles totale Wichser«, urteilt Anoki niederschmetternd. »Die können mich überhaupt nicht ab. Weißt du, was die immer zu mir sagen? – Nokia!« Mir fällt vor Lachen fast das Handy zu Boden. Anokis Bedürfnis nach Trost siegt über seinen Ärger, und er bleibt dran, bis ich mich wieder beruhigt habe. »Die sind total kindisch drauf«, fährt er in seiner Klage fort, »wenn die mich sehen, dann machen die so blöde Klingelgeräusche oder lassen so Sprüche ab, so ›Hat einer schon mal ’n Handy auf zwei Beinen gesehen‹ und so’n Kack.«
»Die sind dir eben geistig nicht gewachsen«, erkläre ich. »Du bist einfach schon viel weiter, und das ärgert sie, und deshalb hacken sie auf dir rum. Am besten ignorierst du sie einfach.« Ich weiß nicht, ob ihm das hilft, aber er soll wenigstens wissen, dass ich mit ihm fühle.
Meinen Eltern kann er davon nichts erzählen, sagt er, die verstehen überhaupt nicht, warum er sich ärgert, und schlagen ihm immerzu vor, er soll doch mal jemanden aus seiner Klasse zu sich nach Hause einladen. Wie soll das denn gehen? Da herrscht Krieg! Anoki verbringt also seine Freizeit meistens alleine, und das tut ihm nicht gut. Erstens ist er seit vier Jahren an ein durchorganisiertes, gruppendynamisches Beschäftigungsprogramm gewöhnt, zweitens ist er in Neuruppin fremd und weiß nicht, wohin er gehen soll, und drittens braucht man in dem Alter einfach Freunde – sonst dreht man durch. Die Folge ist, dass er ziemlich viele Dummheiten macht, von denen er mir wahrscheinlich nur einen Bruchteil berichtet. Immerhin gesteht er, dass er grundsätzlich ohne zu bezahlen mit dem Bus fährt, dass er auf den ungesicherten Hangars des alten Flugplatzes herumklettert, dass er sich ab und zu abends aus dem Haus schleicht und mit dem Skateboard rumfährt und dass er auf dem Parkplatz der Schule mit seinem Taschenmesser den Lack mehrerer Autos zerkratzt hat – »weil ich war so sauer«, wie er sagt.
Ich ahne, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist, und ich mache mir Sorgen. Anoki erzählt, dass meine Eltern sich durchaus Mühe geben, ihm das Leben ein bisschen schöner zu machen. Mein Vater tapeziert gerade das Wohnzimmer neu und versucht, Anoki dafür zu begeistern, was ihm allerdings nicht wirklich gelingt. Zwar lobt er immer wieder Anokis Geschicklichkeit, aber ihm entgeht, dass sein Neusohn nur aus Höflichkeit mithilft, nicht aus Interesse am Heimwerken. Und meine Mutter unternimmt so allerhand mit ihrem Miezekätzchen, wenn sie es zeitlich einrichten kann: sie fährt mit ihm zum Schwimmbad, geht mit ihm ins Kino und nimmt ihn mit zu ihrer Freundin, die eine sechzehnjährige Tochter hat – was natürlich voll nach hinten losgeht, weil diese Tochter eine bebrillte Streberin ist, die für Anoki nichts als Verachtung übrig hat, und weil Anoki sie seinerseits hässlich, arrogant und langweilig findet.
Das Einzige, was ein bisschen Freude in Anokis Leben zu bringen scheint, ist die Theater-AG an seiner Schule, zu der ich ihn überredet habe. Sie studieren eine moderne Version von Hänsel und Gretel namens Dennis und Ethel ein, und zunächst bekommt er eine Nebenrolle als Busfahrer zugeteilt, denn natürlich wurden alle interessanten Rollen schon zu
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