Herzbesetzer (German Edition)
ich hatte gesagt, dass ich meine Fehler nicht wiederhole. Stattdessen habe ich mich zehn Jahre nach meinem ersten Mord wieder von einem Minderjährigen zu allerhand Gesetzesüberschreitungen überreden lassen, also habe ich offenbar überhaupt nichts gelernt, obwohl die Lektion doch drastisch genug gewesen sein sollte. Deswegen habe ich auch ein ziemlich schlechtes Gewissen, aber es wird durch die Tatsache, dass Anoki mit fröhlich blitzenden Augen neben mir steht, statt tot in einer Zinkwanne zu liegen, irgendwie ausgehungert.
»Was grübelst du?«, fragt er und strahlt mich herausfordernd an. »Guck doch mal raus. Supergeile Aussicht! Supergeiles Wetter! Oder hast du noch Kopfschmerzen?«
Ich lasse meine Blicke wieder über die Stadt schweifen und beantworte pflichtbewusst alle seine Fragen nach besonders auffälligen Bauwerken. Dafür, dass Anoki sein Leben lang in Berlin gewohnt hat, kennt er sich damit verdammt schlecht aus, aber ich nehme an, dass er einen enormen Wissensvorsprung in anderen Fachgebieten hat: die geschütztesten Schlafplätze, die billigsten öffentlichen Duschgelegenheiten, die kürzesten Fluchtwege, die schlechtestgesicherten Supermärkte und so weiter. Diese Überlegung regt meinen Fütterungsinstinkt an, und ich sage: »Komm, wir gehen irgendwo noch eine Pizza essen, bevor ich dich zum Bahnhof bringe.« An seiner Reaktion merke ich, dass dieser Satz etwas ungeschickt war, denn schon seit heute Morgen unterbricht der Gedanke an unseren bevorstehenden Abschied immer wieder für ein paar Augenblicke Anokis lebenslustiges Grinsen. Aber was soll ich machen? Er gehört ja meinen Eltern – ich hab ihn nur geliehen.
Als der Zug in den Bahnsteig einfährt, hängt sich Anoki mit einer letzten verzweifelten Umklammerung an meinen Hals, und ich nehme mir zum hundertsten Mal vor, ihm irgendwann zu sagen, dass er bitte grundsätzlich mindestens zwanzig Zentimeter Sicherheitsabstand von mir halten soll. Seine unbefangene Anlehnungsbedürftigkeit ist wirklich mehr, als ich ertragen kann. Er betritt den Wagon wie ein Sterbender. Ehe die Tür sich schließt, dreht er sich noch mal zu mir um mit einem kajalumflorten Blick, der wie Säure brennt. Dann verschwindet er hinter verspiegeltem Glas, und ich winke dem abfahrenden Zug hinterher. Was ist das für ein bescheuerter Schmerz in meinen Eingeweiden? Das muss die Pizza sein.
29
Ich betrachte nachdenklich die neben mir schlafende Janine und frage mich, was uns verbindet. Ich meine, was noch . Mir fällt einfach nichts ein. Vielleicht dass wir beide ganz gut aussehen? Na ja, das reicht wohl nicht aus und ist außerdem subjektiv. Oder dass wir beide gern Pringles essen? Au Mann. Ich geb’s zu – da ist nichts. Das war mir zwar auch schon vorher klar, aber es fängt jetzt an, mich zu stören. Ich bin vierundzwanzig, verdammt, da sollte ich vielleicht mal anfangen, mein Leben zu ordnen. Die Zeit des Herumexperimentierens müsste eigentlich vorüber sein. In meinem Bekanntenkreis zeichnen sich bereits die ersten Hochzeiten ab, und ich bumse mich immer noch beliebig durch Berlin. Hinter diesen ganzen pseudoerwachsenen Überlegungen steckt natürlich meine Panik davor, Anokis minderjährigen Reizen zu erliegen. Wirklich, das ist das Aller-, Allerletzte, was ich will. Das wäre eine absolute Bankrotterklärung, eine Kapitulation, das unwiderrufliche Ende meiner Selbstachtung. Und um diesem Schicksal zu entgehen, hilft nur eins: Ich brauche eine Freundin. Aber eine, die diese Bezeichnung auch verdient. Eine Frau, die Geist und Sinne gleichermaßen anspricht, die Forderungen an mich stellt, die Exklusivität verlangt, die mich heiraten und Kinder von mir haben will … äh … o Mann. Sollte ich nicht doch lieber ungezügelt mit meinem kleinen Zweitbruder …? Nein. Ich muss endlich erwachsen werden, auch wenn es wehtut.
Janine wacht auf und lächelt mich an, während sie sich wohlig reckt. »Musst du heute noch weg?«, fragt sie.
Ich schüttele den Kopf, worauf sie sich zufrieden über mich beugt und mich küsst. »Prima«, sagt sie, »ich bin auch eigentlich noch nicht fertig mit dir.«
Ich müsste jetzt wohl sagen: »Aber ich mit dir, Süße, also sei so gut und mach die Tür zu – von außen«, aber wie soll ich das machen, wenn sie rittlings auf mir sitzt und mir die Zunge in den Mund steckt?
Nach wie vor ruft Anoki jeden Abend an und nimmt meine Dienste als Psychotherapeut, Seelsorger, Rechtsbeistand, Pädagoge und Mitwisser in Anspruch. Ich
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