Herzbesetzer (German Edition)
Schuljahresbeginn vergeben. Doch Anfang Februar zieht der Darsteller des Dennis nach Nürnberg, weil sein Vater dort einen Job gefunden hat, und Anoki erkämpft sich die Hauptrolle gegen drei andere Anwärter. Er kriegt eine Menge Lob von seinem Englischlehrer, der die AG leitet, weil er so selbstbewusst und professionell agiert, als sei die Bühne sein natürlicher Lebensraum. Ich denke an sein Verhalten vor der Kamera und kann mir vorstellen, was damit gemeint ist. Nun muss er also die textreiche Hauptrolle spielen. Das heißt: Lesen, Lesen, Lesen und Lernen, Lernen, Lernen. Meine Schadenfreude kennt keine Grenzen, aber sie mischt sich mit einem gewaltigen Stolz auf mein talentiertes kleines Brüderchen.
30
Dann schlagen die ersten Bomben ein. Das heißt, zuerst sind es noch kleinere Splittergranaten, wie der Anruf meiner Mutter an einem Dienstagnachmittag auf der Arbeit.
»Ich bin gerade nach Hause gekommen und hab die Telefonrechnung gelesen«, sagt sie. Sonst nichts. So als müsste ich jetzt irgendwas dazu sagen. Tja, hm … »Wahnsinn, echt interessant, Mama«? Oder: »Ach, erzähl mal – was stand denn drin«? Noch ehe ich eine adäquate Erwiderung zurechtgebastelt habe, fährt sie fort: »Zweihundertvierundneunzig Euro.« Ich reiße die Augen auf und rufe: »Was? Das ist bestimmt ein Irrtum.«
»Leider nicht«, sagt sie säuerlich, aber beherrscht. »Wir haben einen Einzelverbindungsnachweis. Im Monat Januar gab es siebenundzwanzig Gespräche zu einer einzigen Nummer, von denen keins kürzer als eine halbe Stunde war. Und zwar zu deinem Handy.«
Meine Schultern sacken herab, und ich würde am liebsten den Kopf gegen die Schreibtischplatte schlagen. Wie konnte ich so blöd sein? Ich habe komplett vergessen, dass meine Eltern nur einen ganz normalen Telefonanschluss ohne Flatrate, Surf’n’Glow oder sonstigen kostenreduzierenden Schnickschnack haben – brauchten sie ja bisher auch nicht –, und das bedeutet: jeder Anruf von ihrem Festnetz auf ein Handy lässt den Zähler heißlaufen. Meine allabendlichen therapeutischen Aufbaugespräche mit Anoki haben meine Eltern um Haus und Hof gebracht. Jedenfalls fast.
»Och, Scheiße … Mama … das tut mir leid«, sage ich zerknirscht. »Das ist meine Schuld. Ich hab einfach nicht dran gedacht.«
»Wieso deine Schuld?«, fragt meine Mutter überrascht. Na, wieso nicht? Ich bin doch alles schuld, oder? »Es war doch wohl Anoki, der bei dir angerufen hat, und nicht du«, ergänzt sie. Ja, das ist richtig, aber … Jetzt bin ich überrascht. Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ich die Verantwortung für alles trage, was in der Familie Trojan schiefläuft, und in diesem speziellen Fall finde ich das sogar berechtigt. Schließlich kann man nicht verlangen, dass ein vierzehnjähriges Heimkind sich mit Telekommunikationstarifen auskennt.
»Nee, hör mal«, sage ich hastig, »Anoki kann doch gar nichts dafür. Er weiß doch nicht, wie teuer so was ist. Also, klar, er hat mich natürlich angerufen. Aber ich hätte selbst auf die Idee kommen müssen, dass das über euren Anschluss viel zu teuer ist. Tut mir wirklich leid, Mama. Ich mach heute Abend sofort eine Überweisung auf euer Konto fertig. Die Rechnung übernehme ich. Und – sag Anoki bitte nichts, ja? Ich will nicht, dass er sich schuldig fühlt.«
Meine Mutter schweigt einen Moment, und ich will gerade fragen, ob sie noch dran ist, da sagt sie etwas spitz: »Ihr scheint euch ja bei diesen Marathontelefonaten ganz schön nähergekommen zu sein, dass du dich so für ihn einsetzt. Ich finde schon, man sollte ihm mal erklären, dass Telefonieren Geld kostet.« Vermutlich hat sie die Gesprächsminuten auf der Telefonrechnung addiert und mit dem verglichen, was Anoki im vergangenen Monat mit ihr geredet hat. Kein Wunder, dass sie stinkig ist.
Ich habe meinen Eltern dreihundert Euro aufs Konto überwiesen, bei meinem Provider einen Partnervertrag abgeschlossen und Anoki ein Handy gekauft, mit dem er mich von nun an gratis anrufen kann und das ihn vor allen Dingen auch endlich erreichbar macht. Eigentlich wollte ich ihm irgendein billiges Allerweltsmodell besorgen, aber dann habe ich den Fehler gemacht, ihn in meine Pläne einzuweihen, und er fing sofort an, mir von einem ganz bestimmten Sony-Ericsson-Megahandy vorzuschwärmen, das mehr oder weniger alles kann außer Fellatio, und schon hatte ich das scheißteure Trendspielzeug gekauft, noch ehe ich »Pleite« sagen konnte. Irgendwie schrammt
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