Herzbesetzer (German Edition)
können«, schiebe ich hinterher, obwohl mir bereits einiges an Biss verlorengegangen ist.
»Mann, ich hab doch nicht gewusst, dass das hier ’n Hochsicherheitsknast ist«, antwortet Anoki beleidigt.
»Und woher hast du den Rucksack? Und mit welchem Geld hast du den Sprit bezahlt?«, fahre ich fort.
»Hab im Lotto gewonnen«, sagt er schnippisch, »und wenn du keinen Absinth magst, dann trink ich den eben alleine.«
»Hör mal«, versuche ich es mit der Verständnismasche, »ich hab die Verantwortung für dich. Es ist ein beschissenes Gefühl, wenn ich nicht weiß, wo du dich rumtreibst.«
Anoki kichert, sein Ärger ist bereits überwunden. »Manchmal ist das aber besser so«, erklärt er hellsichtig und hängt den Rucksack an meine Garderobe.
Seit Anoki zurück ist, will er wissen, was wir heute Abend unternehmen. Es ist Samstag, und er ist wild entschlossen, das pulsierende Nachtleben der Metropole zu erforschen. Ich habe überhaupt keine Chance mit meinen großväterlichen Vorschlägen wie Fernsehen gucken oder Pizza essen gehen. Er sieht mich nur mitleidig an wie einen hoffnungslos rückständigen Ziegenhirten.
»Erzähl mir doch nicht, dass du normalerweise samstagsabends fernsiehst und Pizza essen gehst«, sagt er. »Du machst bestimmt viel coolere Sachen. Und das will ich jetzt auch.«
»Tja, Pech gehabt«, erwidere ich, »für die cooleren Sachen bist du noch zu jung. Und jetzt versuch nicht, mich zu überreden – denk dran, was dann passiert.« Ein paar Sekunden lang guckt er mich irritiert an, dann fällt der Groschen.
»History never repeats«, behauptet er.
»Ganz genau«, sage ich, »und meine Fehler wiederhole ich auch nicht. Also, wenn du heute Abend einen draufmachen willst, musst du dir einen anderen suchen.«
Er steht lächelnd auf und geht zur Tür. »Okay, tschüs!«, winkt er, und mir bleibt fast das Herz stehen, aber dann dreht er sich wieder um und lacht über meine schreckgeweiteten Augen. »Komm mal klar«, beruhigt er mich, »ich lass dich nicht allein. Einer muss doch auf dich aufpassen.« Er holt die Flasche Absinth aus der Küche und schenkt zwei großzügige Gläser ein. »Komm, jetzt bringen wir uns erst mal in Stimmung, und dann kauen wir das Thema noch mal durch.«
28
Ich erwache mit presslufthammerartigen Kopfschmerzen und ohne Erinnerung an die letzten zwölf Stunden. Neben mir – und zu zwanzig Prozent auch auf mir – liegt Anoki, friedlich schlafend, wunderbar warm und umgeben von der unschuldigen Aura eines Engels. Ich schiebe vorsichtig seine Extremitäten von mir herunter und setze mich auf, was den rhythmischen Schmerz in meinem Kopf zu neuen Dimensionen hochschraubt. Stöhnend presse ich meine Hände dorthin, wo es am heftigsten wummert, und warte mit geschlossenen Augen, bis ich wieder gleichmäßig atmen kann.
»Leg dich wieder hin«, flüstert Anoki neben mir.
Ich riskiere einen Blick: Er mustert mich besorgt und teilnahmsvoll. Sehr behutsam fasst er mich an der Schulter und drückt mich wieder in die Horizontale, begibt sich erneut in Kuschelposition und schläft augenblicklich weiter. Zwischen Entzücken, Schmerz und Fluchtwünschen hin- und hergerissen liege ich wach, versuche mich zu erinnern, was seit unserem letzten Glas Absinth geschehen ist, und ignoriere verbissen Anokis streichelzarten Atem an meinem Hals. Langsam formen sich ein paar Bilder in meinem Gedächtnis: eine Taxifahrt in die Stadt, eine gnadenlos laute Punkband in irgendeinem feuchten Clubkeller, ein fettiger Döner in einem schmuddeligen Stehimbiss, ein Fünfzig-Euro-Schein, von mir an Anoki und von diesem an irgendeinen Kapuzenträger weitergereicht im Austausch gegen Dope, ein DJ mit ans Ohr gepresstem Kopfhörer und rhythmisch hämmernde Musik, rhythmisch hämmernd wie meine Kopfschmerzen … Ich glaube, Anoki ist kein guter Umgang für mich.
Drei Aspirin später sieht die Welt schon anders aus. Besonders von der Aussichtsplattform des Fernsehturms aus, auf den Anoki mich mit seiner unverwüstlichen Unternehmungslust gejagt hat. An diesem sonnigen, klaren Tag liegt uns ganz Berlin zu Füßen, und die Bedenken bezüglich meiner mangelhaft wahrgenommen Aufsichtspflicht verschwinden in der Bedeutungslosigkeit. Schließlich hat Anoki weder seelischen noch körperlichen Schaden genommen, weil ich mit ihm bis drei Uhr früh durch die Clubs gezogen bin und ihm Drogen besorgt habe, sondern er wirkt im Gegenteil glücklicher und entspannter als jemals zuvor. Ich weiß –
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