Herzbesetzer (German Edition)
mein Konto seit Jahresbeginn immer ganz knapp am Dispokredit vorbei. So was kannte ich vorher gar nicht.
Gerade bin ich in Neuruppin eingetroffen – ich bin jetzt eigentlich jedes Wochenende in Neuruppin – und drücke Anoki an mich, dessen Begrüßungszeremonien von Woche zu Woche ekstatischer werden. Ich warte auf den Tag, wo er mich an der Haustüre umrennt, so dass wir beide rückwärts in den Schnee stürzen. Er lässt mich heute gar nicht mehr los; ich muss seine Arme mit sanfter Gewalt von meinem Hals lösen, damit ich auch mal meine Eltern begrüßen kann, aber an ihren Gesichtern sehe ich schon, dass irgendetwas nicht ganz in Ordnung ist.
»Anoki ist heute Mittag von der Polizei nach Hause gebracht worden«, sagt mein Vater mit einem ziemlich melodramatischen Gesichtsausdruck. Meine Mutter steht mit verschränkten Armen daneben und hat einen verkniffenen Zug um den Mund.
Ich sehe Anoki an, der gerade hundertsiebzig Zentimeter kleiner geworden ist und Anstalten macht, sich unter dem Teppich davonzuschleichen. Nachdem ich meine Betroffenheit weggeräuspert habe, frage ich: »Und wieso?«
Mit traditioneller pädagogischer Boshaftigkeit sagt meine Mutter: »Tja, das soll er dir mal selber erzählen.«
Ich werde in eine Rolle gedrängt, die ich nicht haben will: die des obersten Richters, des Urteilsverkünders, des Vollstreckers. Natürlich weiß meine Mutter, dass ich in Anokis Leben eine viel wichtigere Rolle spiele als sie. Und genau aus diesem Grund bringt sie mich jetzt in diese Situation. Für sie ist das ein willkommener Anlass, sich zu rächen. Es ist unfair und gemein, und ich kann nichts dagegen tun.
Anoki hat sich mit hängendem Kopf auf die Treppe gesetzt und wagt nicht aufzublicken. Ich beschließe, der Betonpädagogik meiner Eltern ein Kontrastprogramm gegenüberzustellen, setze mich neben ihn und lege den Arm um seine Schultern. »Na, lass mal hören, Mister Hyde«, sage ich liebevoll und beobachte aus den Augenwinkeln, wie meine Mutter vor Wut zu schäumen beginnt.
Anoki dreht das Gesicht weg und bockt. »Okay, lass mich raten«, sage ich: »Du hast ihnen bei der Überführung eines jahrelang gesuchten Massenmörders geholfen, und zum Dank dafür haben sie dich nach Hause gefahren.«
Während meine Mutter kurz vor der Explosion steht, fängt mein Secondhandbruder an zu grinsen, auch wenn er immer noch zu Boden schaut.
»Oder du hast dich verlaufen und bist stundenlang durch die Großstadtschluchten von Neuruppin City geirrt, bis eine freundliche Polizeistreife dir zu Hilfe kam«, schlage ich vor.
Anoki kichert, mein Vater guckt hilflos, und meine Mutter wendet sich ab und murmelt im Hinausgehen: »Schön wär’s.«
Natürlich war es ein bisschen anders. Anoki wurde dabei erwischt, wie er in der Parfümerie im Einkaufszentrum eine Flasche Paco Rabanne Eau de toilette geklaut hat, und das auch noch während der Schulzeit, dieser Idiot. Die Verkäuferin hat nicht lange gefackelt, sondern gleich eine Securitystreife hergeholt und die Polizei alarmiert, und Anoki wurde aufs Revier verfrachtet und verhört. Ihm wird nicht viel passieren, aber dass er beim Schulschwänzen und beim Klauen erwischt wurde und dass dann auch noch meine Eltern davon erfahren mussten, hat ihm schon einen argen Dämpfer verpasst. Ich weiß ja schon lange, dass er kein Engel ist, aber für meine Eltern ist er jetzt ziemlich unsanft vom Sockel gefallen. Pflichtgemäß stauche ich ihn ein bisschen zusammen, weil sie in Hörweite sind: »Wie bist du denn auf so eine dumme Idee gekommen, was hast du dir dabei nur gedacht, so was machst du aber nicht noch mal« und so weiter. Als wir später alleine sind, spreche ich ihn noch mal ohne den Publikumseffekt darauf an. »Du bist wirklich grottendämlich, dass du dich hast erwischen lassen. Und was zum Geier willst du mit Paco Rabanne? Ich finde, du riechst gut genug.«
Da guckt er mich so zauberhaft hundeäugig an, dass ich eine Gänsehaut kriege, und sagt: »Das sollte doch für dich sein. Ich wollt dir auch mal was schenken.«
31
Nur vier Tage später geht die nächste Bombe hoch. Wieder erhalte ich einen Anruf auf der Arbeit, diesmal allerdings von meinem Vater.
»Anoki ist im Krankenhaus«, erklärt er ohne jede schonende Einleitung. »Verdacht auf Schädelbruch.«
Ich schreie wie ein Irrer in den Hörer: »Was? Was ist passiert?« Aber mein Vater war noch nie ein besonders ergiebiger Gesprächspartner. »Ein Unfall mit seinem Skateboard«, sagt er, »Mama
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