Herzbesetzer (German Edition)
Dusche wieder ein bisschen zu fangen.
27
Beim Frühstück ist Anoki allerbester Laune und plappert ohne Punkt und Komma, während ich aufgrund akuten Schlafmangels kaum die Zähne auseinanderkriege, höchstens zum Gähnen oder um Kaffee dazwischenzukippen. Er erzählt mir, dass er schon lange nicht mehr so herrlich geschlafen hat, dass ich ein tierisch bequemes Bett habe, dass er überhaupt viel besser schläft, wenn jemand in seiner Nähe sei, weil er das so gewohnt ist, da er fast immer mit seinen Eltern auf einer Matratze gelegen und sich ja auch im Heim das Zimmer mit zwei weiteren Jungs geteilt hat, dass er einen unheimlich geilen Traum hatte, den er mir aber nicht erzählen kann, weil er einen Themenbereich berührt, den er ja nicht mehr erwähnen darf, und warum er für den heutigen Tag genau diese Klamotten ausgewählt hat, die er jetzt anhat, und keine anderen. Und so weiter, und so fort. Wenn ich nicht so müde wäre, fände ich das bestimmt ganz charmant. So finde ich es nur anstrengend.
Als Anoki sein Frühstück beendet hat, ist mein Kühlschrank leer. Eigentlich hatte ich geplant, mit diesen Lebensmitteln bis Mittwoch auszukommen, aber da wusste ich ja noch nicht, dass die kleine Raupe Nimmersatt zu Besuch kommen würde. Auf seine mehrfach wiederholte Frage, was wir denn heute machen, kann ich also endlich eine präzise Antwort geben, und die lautet: »Wir gehen einkaufen.« Da es sich diesmal nicht um trendige Klamotten, sondern lediglich um prosaische Grundnahrungsmittel handeln wird, hält sich sein Enthusiasmus in Grenzen, aber Anoki ist ja im Großen und Ganzen unkompliziert und von bewundernswerter kontinuierlicher Heiterkeit – etwas, das ich immer mehr an ihm zu schätzen lerne.
Wieder beweist Anoki ein ausgeprägtes Gespür für Exklusivität, sogar im Supermarkt. Als ich an der Kasse meine bereits wundgescheuerte EC-Karte zücke, bin ich in Versuchung, statt meiner Geheimzahl »Insolvenz« einzutippen. Wir schleppen zentnerschwere Tüten in meine Wohnung und verstauen alles in den Schränken, was Anoki nicht jetzt sofort konsumieren will. Danach bin ich ausgebrannt und lege mich zu einem kurzen Nickerchen auf die Couch. Das ist jedenfalls meine Absicht. Tatsächlich muss ich wohl noch viel müder sein, als ich gedacht hatte, denn als ich leicht desorientiert aus diesem Nickerchen erwache, sind fast zwei Stunden vergangen – und Anoki ist weg. Fluchend rappele ich mich hoch und sehe vorsichtshalber im Bad und in der Küche nach. Mein Schlüssel steckt nicht mehr in der Wohnungstür. Soll ich meinen Ersatzbruder suchen gehen? Oder lieber hierbleiben und warten, bis er wiederkommt? Die Polizei alarmieren? Meine Eltern anrufen? Scheint mir alles wenig Erfolg zu versprechen. Am Ende entscheide ich mich dafür, in der Wohnung zu bleiben, denn falls Anoki zwischenzeitlich zurückkehrt und mich nicht vorfindet, läuft er vielleicht gleich wieder davon.
Ich tigere hin und her, fasse alles an, lasse es wieder los, gucke aus dem Fenster, renne die Treppe runter zur Haustür, lasse meine Blicke die Straße rauf und runter wandern, jage die Treppe wieder hoch – und so weiter. Meine Fantasie produziert fortwährend unerwünschte Schreckensbilder, zum Beispiel Anoki von der S-Bahn überfahren, Anoki einem Kinderschänder in die Hände gefallen (einem, der weniger zimperlich ist als ich), Anoki beim Klauen erwischt und auf der Polizeiwache, Anoki verirrt und orientierungslos im Grunewald, Anoki beim Kauf von verunreinigten Drogen am Bahnhof Zoo und so weiter.
Nach fünfzig Minuten, in denen sich meine Lebenserwartung vermutlich um ein paar Jahre reduziert hat, kommt Anoki unversehrt und in allerbester Laune nach Hause.
»Na, ausgeschlafen?«, begrüßt er mich fröhlich und windet sich aus den Tragegurten eines nagelneuen knallroten Kipling-Rucksacks (geschätzter Ladenpreis hundert Euro). »Guck mal, ich hab dir was mitgebracht.« Er öffnet den Reißverschluss dieser dubiosen neuen Errungenschaft und entnimmt ihr eine Halbliterflasche Elixier-Absinth. »Kennst du das? Soll tierisch einfahren. Siebzig Prozent, Alter!«
»Wo warst du?«, blöke ich ihn an. »Wieso bist du einfach abgehauen? Ich hab mir entsetzliche Sorgen gemacht!«
»Hey – du hast geschlafen!«, verteidigt sich Anoki gekränkt. »Und zwar ewig lange! Mir war langweilig. Ich bin doch bloß ’n bisschen spazieren gegangen! Was ist denn daran so schlimm?«
»Du hättest mir ja wenigstens mal einen Zettel hinlegen
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