Herzbesetzer (German Edition)
würd den ganzen Tag zu Hause bleiben und auf dich warten und das Geschirr spülen, deine Hemden bügeln, ähm …« Da gehen ihm schon die Ideen aus, typisch. »Und staubsaugen!«, schiebt er noch triumphierend hinterher.
Ich gönne mir den Luxus, mir vorzustellen, wie er splitternackt hinter dem Bügelbrett steht, wenn ich abends müde von der Arbeit nach Hause komme. Nur eine Sekunde lang. Dann antworte ich: »Toll, damit wärst du ja garantiert komplett ausgelastet. Hey – vergiss es! Überleg dir mein Angebot: eine Woche Jugendfreizeit in irgendeiner schönen, abgelegenen Gegend von Meck-Pomm oder so. Den ganzen Tag Sport. Nette Leute in deinem Alter. Lagerfeuer, Nachtwanderungen, Schneeballschlachten und so weiter. Na?«
Es ist, als hätte er mir gar nicht zugehört. »Ich will zu dir«, wiederholt er zum tausendsten Mal.
Wenig später platzt die nächste Bombe, diesmal eine größere. Anoki ruft mich an und heult am Telefon – das ist was Neues. Ich bin wie betäubt vor Schreck, und es dauert endlos, bis ich seinem Geschluchze einen Sinn entnehmen kann. Dann verstehe ich seine Verzweiflung: Sie wollen ihm die Rolle des Dennis wieder wegnehmen, und zwar wegen des Schulschwänzens. Offenbar hat das Jugendamt, von der Polizei über seine Eskapaden informiert, sich mit der Schulleitung in Verbindung gesetzt, und nun gilt er als eine Art unerwünschtes Element und kann auf keinen Fall die Schule nach außen repräsentieren, schon gar nicht als Hauptdarsteller einer Theateraufführung, die traditionell von halb Neuruppin besucht und ausschnittweise sogar im Lokalfernsehen übertragen wird. Ich rufe meine Mutter an und diskutiere das Thema mit ihr. Sie lässt jeglichen Kampfgeist vermissen.
»Wenn die Schule das so beschlossen hat …«, sagt sie lahm. Und ich brülle: »Na und? Das kann man doch nicht einfach so hinnehmen! Die Zeiten sind vorbei, wo Obrigkeiten die Beschlüsse gefasst haben und alle zu kuschen hatten!«
Darauf faucht sie nur: »Schrei nicht so! Wie redest du denn mit mir?«
Das ist alles, was sie interessiert: dass ich mich an die Regeln halte. Ich und Anoki und die ganze Welt. Minuten später rufe ich im Sekretariat seiner Schule an und verlange einen Termin beim Direktor, und ich bestehe darauf, dass das noch vor den Winterferien zu sein hat, also innerhalb der nächsten drei Tage. Widerstrebend bestellt man mich für Donnerstag um dreizehn Uhr dreißig. Ich hab keine Ahnung, wie ich meiner Chefin erklären soll, dass ich schon wieder früher von der Arbeit weg muss.
Ohne lange Vorrede knalle ich Anokis Schulleiter meine gesammelten Vorwürfe auf den Tisch. Anoki steuert mittlerweile in eine waschechte Depression hinein. Er isst kaum noch was, hat meine Mutter gesagt, und starrt nur mit glasigen Augen vor sich hin. Mühsam beherrscht erkläre ich dem Direktor, dass diese Maßnahme pädagogisch unhaltbar ist, dass Anoki gerade durch das Theaterspielen und die damit verbundenen Erfolgserlebnisse angefangen hatte, sich zu integrieren und weiterzuentwickeln, und dass sie ihn jetzt regelrecht zum Abrutschen zwingen. Ich schildere ihm meinen Nachwuchsbruder wortreich als sensibles, künstlerisch begabtes, zurückhaltendes und verträumtes Engelchen und frage mich dabei insgeheim, über wen ich eigentlich rede – egal, Hauptsache, es wirkt. Und das tut es. Der Schulleiter hört sich meine flammende Predigt zunehmend nachdenklicher an, dann fängt er an, ein paar Zwischenfragen zu stellen, und am Ende nimmt er den Entschluss zurück. Mann, wann war ich zuletzt so zufrieden mit mir? Das muss Jahrzehnte her sein. Ich fahre zu meinen Eltern mit einem Grinsen, so breit wie die Karl-Marx-Allee.
Anoki ist allein zu Hause und öffnet mir die Tür als jämmerliche, gebrochene Kreatur, aber als er mein Gesicht sieht, weiß er, dass alles geregelt ist.
»Du bist wieder Dennis«, sage ich, und er flippt total aus. Er springt mich an, stößt unartikulierte Jubelschreie aus, boxt mir schmerzhaft gegen die Schulter, hüpft wie ein Gummiball durch den Hausflur und lacht und weint gleichzeitig. Ich hab noch nie jemanden sich so hemmungslos freuen sehen, außer vielleicht im Fernsehen. Nachdem er sich ein bisschen beruhigt hat, sagt er überwältigt: »Du hast es echt geschafft. Ich hab’s gewusst! Julo, du bist der ultrageilste Bruder der ganzen Welt.«
Wie hat er mich da gerade genannt? Julo? Genau mit diesem Namen hat Benjamin mich immer angesprochen, wenn er besonders nett zu mir sein wollte. Ich
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