Herzbesetzer (German Edition)
erstarre körperlich wie seelisch, als wäre ich plötzlich zu Stein geworden. Anoki guckt mich erschrocken an.
»Hab ich was Falsches gesagt?«, fragt er vorsichtig.
»Nee … alles okay.« Ich setze mich auf die Treppe, weil ich so ein puddingartiges Gefühl in den Beinen habe, und Anoki setzt sich, schlagartig ganz still geworden, neben mich und wartet geduldig ab, bis ich wieder in der Gegenwart angekommen bin.
33
Ich habe spontan beschlossen, bis Sonntag hierzubleiben, was allerdings bedeutet, dass ich ein ärztliches Attest benötige. Also fahre ich umgehend in die Praxis. Ich weiß nicht so recht, was ich dem Doktor erzählen soll, und plappere etwas von Unwohlsein daher, wobei ich von einem kräftigen Husten unterbrochen werde. Na ja, ich huste schon seit ein paar Tagen, aber ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht. Jetzt guckt der Arzt mir in den Hals und horcht mich ab, und schwupp! habe ich eine Bronchitis, für die er mich bis Ende nächster Woche aus dem Verkehr zieht. Zum zweiten Mal nähere ich mich mit einem selbstzufriedenen Grinsen meinem Elternhaus. Als ich Anoki von der Krankschreibung erzähle, antwortet er wie aus der Pistole geschossen und mit unwiderlegbarem Nachdruck: »Dann fahr ich mit dir nach Berlin. Ich muss mich um dich kümmern. Du bist ja krank.«
Mir fällt nicht ein einziges Argument ein, mit dem ich jetzt noch den Kopf aus der Schlinge ziehen kann, und mein schlappes Gefasel von Ansteckungsgefahr hält Anoki nicht mal einer Antwort für würdig. Mit flammendem Triumph bettet er mich auf die Couch, als stünde der Sensenmann schon im Nebenzimmer, und wickelt mich in eine Wolldecke. »Sei still und ruh dich aus«, befiehlt er, setzt sich zu mir, legt meine Beine über seinen Schoß und vertieft sich in sein Textbuch. Ich bin innerhalb von fünf Minuten eingeschlafen.
Am folgenden Morgen ist die Zeugnisausgabe. Ich fahre Anoki zur Schule und hole ihn zwei Stunden später wieder ab. Er lehnt draußen an einem Ampelpfosten und raucht, das Giftblatt in der Hand. Zu Hause sehe ich es mir in Ruhe an. Oh-oh! Das ist so eine Art Freifahrtschein für Hartz IV.
»Ach du Scheiße«, rutscht es mir heraus, und Anoki muckt auf: »Halt bloß die Klappe!« Ich verpasse ihm einen beiläufigen, aber keineswegs schmerzlosen Fausthieb gegen den Oberarm und studiere weiter das Zeugnis. Deutsch: mangelhaft. Geschichte: mangelhaft. Geografie: mangelhaft. Mathematik: ausreichend. Biologie: ausreichend. Englisch: befriedigend. Sport: natürlich sehr gut. Aber das reicht noch nicht mal für eine Karriere als Hilfstellerwäscher. Und dann ist da noch diese beißende Bemerkung über seine unentschuldigten Fehlstunden.
Dafür legt Anoki das ganze Wochenende eifriges Wohlverhalten an den Tag. Meine Eltern sind sich nämlich keineswegs sicher, ob sie ihm erlauben sollen, die Ferien bei mir zu verbringen, insbesondere nach diesem katastrophalen Zeugnis. Ein Teil von mir hofft, dass sie es ihm verbieten werden, ein anderer fleht stumm darum, dass Anoki mitkommen darf. Ich weiß beim besten Willen nicht, welcher stärker ist, deshalb verhalte ich mich neutral und halte mich raus. Und beobachte mit wachsendem Amüsement, wie Anoki meine Eltern um den Finger wickelt. Mittlerweile geht es mir wirklich nicht mehr gut. Ich kann nachts nicht schlafen, weil ich dauernd husten muss, und Schlaf ist für mich gleichbedeutend mit Lebensqualität, also leide ich. Anoki spielt die Krankenschwester, um auch meine letzten Zweifel daran zu zerstreuen, dass seine Anwesenheit in Berlin ein absolutes Muss ist. Er will mir sogar Quarkwickel machen, was glücklicherweise daran scheitert, dass meine Eltern keinen Quark im Haus haben.
Meine Eltern sind nicht überzeugt, eher überredet, aber sie lassen Anoki gehen. Meine Mutter gibt ihm unzählige Ermahnungen mit auf den Weg: dass er jeden Tag mindestens eine Stunde für die Schule lernen soll, dass er unter keinen Umständen allein durch Berlin laufen darf, dass er Rücksicht auf die anderen Mieter in meinem Haus nehmen muss und keine laute Musik hören kann, dass er sich regelmäßig bei ihr melden soll, dass sein Handy jederzeit eingeschaltet zu sein hat und so weiter, und so fort. Und mein Vater sagt zu mir: »Wenn er dich zu sehr nervt, setz ihn einfach in den Zug«, was ich erstaunlich nett von ihm finde. Bisher haben meine Eltern sich herzlich wenig darum gekümmert, ob mich irgendetwas nervte. Offenbar haben sie erkannt, dass Anoki von der besonders
Weitere Kostenlose Bücher