Herzbesetzer (German Edition)
Zahnspangen, die Plakate hochhalten mit ›Julian, ich will ein Kind von dir‹ und dich überallhin verfolgen?«
Ich könnte jetzt antworten: »Nein – ich meine dich, du süße Sahneschnitte«, aber möglicherweise kapiert er, dass das kein Witz wäre.
Seit Anoki einen PC mit Internetanschluss hat, wächst seine Allgemeinbildung rapide. Ich meine, Speeddating und Singlebörsen – so was hätte er vor einem Monat doch nicht gekannt! Ab und zu lernt er auch was Nützliches, so hat er sich zum Beispiel zu meiner Verblüffung über das aktuelle Berliner Bühnenprogramm informiert. Theater ist seine ganze Leidenschaft. Fast täglich berichtet er mir über seine Fortschritte und Erkenntnisse bezüglich seiner Rolle als Dennis und versorgt mich mit aktuellem Backstage-Klatsch. Die Ethel-Darstellerin, behauptet er, sei total in ihn verknallt. Es gibt da eine Szene, wo die beiden sich küssen müssen – natürlich ganz keusch, denn sie sind ja Bruder und Schwester. Die haben sie neulich geprobt, und dabei hat sie ihm die Zunge in den Mund gesteckt.
»Und? Was hast du gemacht?«, will ich wissen.
»Draufgebissen«, sagt Anoki.
Ich pruste los. »Wieso das denn? Ich meine – ich dachte, du wolltest ’ne Freundin haben? Das war dann aber keine besonders gelungene Anmache.«
»Hey, hör mal – muss ich gleich die erste Beste nehmen? Ich spar mich auf. Für jemand Besonderes«, erklärt Anoki. Bei ihm weiß man nie genau, ob das Ernst oder Scherz ist, aber ich wünschte, ich könnte sagen: »Okay, warte kurz, ich bin gleich bei dir.«
Ein paar Tage später sagt Anoki: »Glaubst du an außerirdisches Leben?« Darüber muss ich erst mal nachdenken. Vermutlich schon, ja, aber wieso will er das wissen? »Hast du schon mal was von Entführungen durch Außerirdische gehört?«, fragt er weiter und berichtet: »Das Komische ist, die Leute, die behaupten, entführt worden zu sein, die erzählen praktisch alle dasselbe. Ist doch komisch, oder? Die können sich doch nicht alle abgesprochen haben!« Ich weiß nach wie vor nicht, worauf er hinauswill, bis er sagt: »Kannst du dir vorstellen, dass meine Eltern von Außerirdischen entführt worden sind?«
Einen Moment lang herrscht Ruhe in der Telefonleitung. »Na ja, möglich ist alles«, sage ich schließlich leise.
»Genau!«, trumpft Anoki auf, »und wenn das so ist, ja?, dann kommen die vielleicht irgendwann wieder! Weil, die Außerirdischen, die lassen ihre Gefangenen meistens nach ’ner Zeit wieder frei. Die machen so paar Experimente mit denen, und dann können die wieder gehen.«
Ich habe meine eigene Theorie zum Verschwinden seiner Eltern, und die lautet: Sie waren total bedröhnt und haben es einfach nicht gemerkt, dass er noch nicht zurück war. Sie sind losgefahren, ohne sich was dabei zu denken, und als sie geschnallt haben, dass sie ihren Sohn vergessen hatten, war es vielleicht zu spät, oder sie wussten nicht mehr genau, wo sie ihn zuletzt gesehen hatten. Also haben sie an irgendeinem Ort neu angefangen und festgestellt, dass es eigentlich viel einfacher ist ohne Kind: man braucht weniger Platz und weniger Geld, man muss keine Rücksicht nehmen, man kann mehr Zeit für die eigenen Interessen nutzen. Also haben sie nach und nach verdrängt, dass sie mal Eltern waren, und jetzt leben sie irgendwo ihr zufriedenes, bescheidenes, antikapitalistisches Nomadenleben und denken einfach nicht mehr an Anoki. Wie gesagt: das ist meine Theorie. Mag sein, dass sie von meiner eigenen egoistischen Einstellung geprägt ist, oder von meinen Vorurteilen gegenüber Hausbesetzern. Ich werde sie Anoki niemals erzählen, und ich hoffe sogar, dass ich total danebenliege. In Anokis Hypothesen steckt jedenfalls ohne Frage weitaus mehr Liebe.
Er hat noch eine weitere wahnwitzige Vermutung. »Ich glaub, deine Mutter geht fremd«, erklärt er mir eines Abends.
Da fällt mir fast das Telefon aus der Hand. Nachdem ich mich wieder gefangen habe, entgegne ich: »Quatsch! Totaler Blödsinn! Doch nicht meine Mutter! Wie kommst du denn auf den Scheiß?«
Verständlicherweise hat er daraufhin keine Lust mehr, mich mit Details über seine Schlussfolgerungen zu versorgen, und sagt bloß: »Ach, egal. War nur so’n Gedanke«, aber ich grüble noch tagelang darüber nach und suche mein Gedächtnis nach möglichen Hinweisen ab, die ich falsch (oder gar nicht) gedeutet haben könnte. Da ist absolut nichts. Abgesehen von dieser leichten Gereiztheit, die mir an meiner Mutter in letzter Zeit
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