Herzbesetzer (German Edition)
Moment egal. Der ist zäh, der wird mir schon nicht unter der Hand wegsterben. Jetzt brauch ich erst mal Erholung. Ich sehe auf die Uhr: kurz vor fünf. Also, eins ist klar: Ich kann dieses besoffene Miststück auf gar keinen Fall in zwei Stunden in die Eisenbahn setzen. Und es spricht einiges dafür, dass genau dies das Ziel seiner hirnrissigen Aktion war. Leider bin mal wieder ich der Inhaber der Karte mit dem großen A, der es nun meinen Eltern beibiegen darf. Ich rufe also zu Hause an und bin erleichtert, meinen Vater am Apparat zu haben.
»Anoki hat sich den Magen verdorben«, erzähle ich fast ohne zu lügen. »Er hat sich eben furchtbar übergeben und liegt jetzt im Bett. Ich glaub nicht, dass er in diesem Zustand fahren kann. Am besten nimmt er morgen früh den Zug um sechs und geht dann vom Bahnhof aus gleich zur Schule.« Oh, wie ich es hasse, für diesen alkoholisierten Trickbetrüger alles organisieren zu müssen! Dafür wird er mir noch büßen.
Wenigstens schöpfen meine Eltern keinen Verdacht, und nachdem wir alle Formalitäten geregelt haben, geben sie sogar der Hoffnung Ausdruck, dass ich nicht zufällig von derselben verdorbenen Ware gegessen habe und auch noch krank werde. Beinahe schäme ich mich etwas.
Ich glaube nicht, dass Anoki diese zusätzliche Nacht in meinem Bett sehr genießt. Als ich ihn um halb fünf hochscheuche, sieht er grauenhaft aus: kreidebleich und verquollen wie eine mehrere Tage alte Leiche.
»Und, bist du jetzt zufrieden?«, frage ich ihn.
»Was’n, wieso zufrieden?«, nuschelt er kaum hörbar.
»Tja, du wolltest ja unbedingt noch hierbleiben – das hast du doch geschafft.«
Anoki guckt mich zweifelnd an und tippt sich an die Stirn. »Hör mal, so unwiderstehlich bist du nun auch wieder nicht«, eröffnet er mir schonungslos und verschwindet unter der Dusche. Er redet den ganzen Morgen kaum, und essen will er auch nichts. Ich habe ein schlechtes Gewissen, als ich ihn um kurz nach sechs in das Zugabteil schiebe. Hätte er noch einen Tag zu Hause bleiben sollen? Wird er einen anstrengenden Schultag in diesem Zustand durchstehen? Aber dann erinnere ich mich daran, dass er genau diesen Zustand selbst herbeigeführt und mir damit erhebliche Unannehmlichkeiten bereitet hat, und ich unterdrücke mein Mitleid. Zwei Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Anoki kommt noch mal rausgerast, fällt mir ein letztes Mal um den Hals und flüstert: »Nicht sauer sein! Bitte!«, dann verschwindet er wieder hinter der zischenden Schiebetür.
44
Anoki trifft sich jetzt häufig mit Nick, einem Jungen aus seiner Klasse, der morgens mit dem Fahrrad von Alt Ruppin zur Schule fährt und dabei praktisch bei Anoki vorbeikommt. Nachdem die beiden sich mehrfach zufällig auf dem Schulweg begegnet sind, haben sie vereinbart, sich jeden Morgen um sieben Uhr fünfundvierzig am Kreisverkehr zu treffen. Anoki hängt sich dann mit seinem Skateboard an Nicks Fahrrad. In der Klasse haben sie sich nebeneinander gesetzt, und nachmittags gehen sie gemeinsam nach Hause – oder auch nicht. Häufiger ziehen sie nämlich durch Neuruppin und denken sich Dummheiten aus. Anoki erzählt mir, dass Nick ihm gezeigt hat, wie man einen Kaugummiautomaten knackt.
»Super«, sage ich sarkastisch, »ein Freund, von dem du was lernen kannst!« Ich entwickele auf der Stelle erhebliche Vorbehalte gegen Nick. Nichts von dem, was ich über ihn erfahre, lässt ihn mir als Freund für Anoki geeignet erscheinen. Zum Beispiel sind seine schulischen Leistungen in keinem einzigen Fach außer Geschichte besser als Anokis, er hat keinerlei Interessen außer Fußball, seine Eltern sind seit der Wende fast ohne Unterbrechung arbeitslos, und er hat noch drei ältere Brüder, von denen er wahrscheinlich eine Menge unerwünschter Anregungen erhält.
Schon in der folgenden Woche ruft meine Mutter mich an und sagt, eine Kollegin hätte ihr gerade erzählt, sie habe Anoki und seinen Freund gestern Vormittag auf einer Bank im Rosengarten hocken sehen – jeder mit einer Flasche Bier in der Hand. Das soll so gegen halb elf gewesen sein, also mitten während der Unterrichtszeit. Wie gewöhnlich ist meine Mutter sehr wütend, vor allem weil sie wieder mal von Dritten auf Anokis Verhalten hingewiesen wurde. Ich versuche, sie zu beruhigen, und abends telefoniere ich mit Anoki persönlich. »Stimmt das denn?«, will ich wissen. »Ihr habt die Schule geschwänzt und im Rosengarten Bier getrunken?«
Er druckst ein bisschen rum und gibt es dann
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