Herzbesetzer (German Edition)
Schärfe in ihrem Ton bemerkbar. Es ist nicht zu übersehen, dass das Verhältnis zwischen meinen Eltern und ihrem Pflegekind recht gespannt ist. Anoki ist eben nicht das fluffige kleine Perserkätzchen, das man mit ein paar Dosen Whiskas handzahm machen kann, bis es einem auf Kommando schnurrend auf den Schoß springt. Im Gegenteil: Je mehr man sich um ihn bemüht, desto spröder wird er. Vielleicht will er nicht noch mal so gelinkt werden wie von seinen Eltern, deren Liebe er sicherlich bis zu jenem denkwürdigen Tag an der Raststätte nie angezweifelt hat – keine Ahnung, ich bin ja kein Psychologe. Jedenfalls glaube ich fest daran, dass Anoki bloß deshalb so viel Zutrauen zu mir gefasst hat, weil ich ihn von Anfang an eher abweisend und gleichgültig behandelt habe. Heute ist er zwar der wichtigste Mensch in meinem Leben, und darüber hinaus bin ich immer noch in wachsendem Maße scharf auf ihn, aber das würde ich ihm niemals sagen. Ich gehe mit ihm um wie mit einem lästigen, aber unabänderlichen Naturereignis, so wie eine Rattenplage oder wochenlanger Regen. Ab und zu beschimpfe ich ihn, wenn er frech wird, kriegt er eine geklatscht, und so frisst er mir aus der Hand, der kleine Tiger, und verschafft mir damit heimliche Wonneschauer. Im Übrigen weiß er ganz genau, dass er jederzeit auf mich zählen kann, und hat auch längst erkannt, wie leicht es ist, von mir zu bekommen, was immer er haben will.
Ich wünschte nur, meine Eltern könnten sich besser in ihn reindenken. Entweder übertreiben sie es mit ihren Annäherungsversuchen, oder sie verfallen in totale Abwehr, wenn er wieder über die Stränge geschlagen hat. Dabei legen sie so furchtbar hohe Maßstäbe an. Ist das denn wirklich so dramatisch, wenn Anoki mal die Schule schwänzt, in seinem Zimmer quarzt oder ein Päckchen Kaugummi klaut? Meine Güte. Er ist eben anders großgeworden als Benni und ich, ohne feste Regeln und klare Grenzen, da kann man doch jetzt nicht erwarten, dass er zum Musterkind mutiert. Mir ist es jedenfalls lieber, er klaut, als dass er eines Tages mit einer Pumpgun in sein Schulgebäude stürmt und alles umnietet, was sich bewegt, weil er jahrelang eingezwängt und bevormundet wurde und nie mal ein bisschen vom rechten Wege abweichen durfte.
Ich beobachte meine Mutter in letzter Zeit argwöhnisch, weil mir immer wieder Anokis Vermutung durch den Kopf geht, sie hätte einen Liebhaber. Nach wie vor finde ich dafür keine überzeugenden Anzeichen. Aber dass sie sich verändert hat, steht außer Frage. Bis vor kurzem hatte sie noch an Benjamins Tod zu knabbern, was man ihr deutlich anmerkte. Sie und mein Vater hatten sich weitgehend aus allem zurückgezogen, pflegten zwar routinemäßig ihren Freundeskreis, aber machten von sich aus wenig Anstalten, ihr Leben irgendwie bunter zu gestalten. Dann kam die Phase, in der sie die Idee mit dem Pflegekind hatte, und Anokis erste – noch relativ problemlose – Zeit bei uns. Da ist meine Mutter aufgeblüht. So aufgedreht und zufrieden hatte ich sie lange nicht mehr erlebt. Aber jetzt scheint auch diese Epoche vorüber zu sein; der Alltag hat sie eingeholt, und sie realisiert, dass es verdammt mühsam ist, neben ihrer Vollzeitstelle im Krankenhaus, einem Einfamilienhaus mit großem Garten und einem etwas unselbstständigen Ehemann noch ein wildes, kriminelles, liebebedürftiges und pausenlos hungriges Kind zu versorgen und in Schach zu halten.
Sie nimmt sich gelegentlich die berühmt-berüchtigte Auszeit, mit anderen Worten: Sie ist für eine Weile einfach weg. Das war es wahrscheinlich, was Anokis Verdacht genährt hat. Es kommt zum Beispiel vor, dass sie erst zwei Stunden nach Feierabend heimkommt, ohne sich groß zu rechtfertigen. Trotzdem sorgt sie immer dafür, dass alle satt werden und der Haushalt nicht verwahrlost. Dazu spannt sie auch Anoki zunehmend ein, was ich in Ordnung finde. Er ist ja nicht ins Hotel gezogen. Anoki akzeptiert das ebenfalls klaglos, und er ist auch recht gutwillig, wenn man mal davon absieht, dass häusliche Pflichten am untersten Ende seiner Prioritätenskala rangieren und entsprechend schleppend von ihm erledigt werden. Manchmal macht sich meine Mutter auch am Wochenende auf die Socken. Sie steckt dann fertig angezogen den Kopf durch die Wohnzimmertür und teilt der versammelten Familie mit: »Ich bin so gegen sieben wieder hier!«, und dann schwirrt sie ab. Keiner weiß wohin.
Mir ist aufgefallen, dass Anoki in letzter Zeit viele neue Sachen in seinem
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