Herzbesetzer (German Edition)
und hat nicht ein einziges anarchistisches Loch in ihrer Kleidung. Sie trägt ja nicht mal Nietenarmbänder. Sorry. Sie reizt mich einfach nicht.
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Mit einer Mischung aus Grauen und Entzücken erwarte ich den Beginn der Osterferien. Anoki geht selbstverständlich davon aus, dass er sie von der ersten bis zur letzten Minute bei mir in Berlin verbringen wird – er fragt nicht mal. Stattdessen teilt er mir schon Wochen vorher mit, welche Pläne er diesmal hat und wohin ich ihn chauffieren darf, und ergänzt diese Angaben nahezu täglich durch weitere Ideen, von denen die meisten ebenso zeit- wie kostenintensiv sind. Ich wage nicht, ihn zu
desillusionieren, sondern spreche am Telefon mit meiner Mutter darüber.
»Na klar kann er in den Ferien zu dir«, sagt sie leichthin, »wenn wir ihm das verbieten, würde er ja nur durchbrennen und sich notfalls zu Fuß nach Berlin durchschlagen.«
Ich bewundere nicht nur ihren Sinn für Realismus, sondern auch ihren Mangel an Eifersucht. Vielleicht macht sie eine Therapie oder so was. »Tja, aber, weißt du … Also, das ist mir jetzt zwar unangenehm, aber könntest du ihm ein bisschen Geld mitgeben? Für Essen und so weiter? Ich meine, das sind immerhin zwei Wochen, und ehrlich gesagt bin ich meistens schon pleite, wenn er nur eine Nacht bei mir war«, sage ich mit einigem Unbehagen.
Auch das nimmt meine Mutter gelassen. »Sicher. Kein Problem. Ich denke, wir geben ihm die Hälfte des Pflegegelds für diesen Monat mit, da hat Papa bestimmt nichts dagegen.«
Da bin ich ziemlich erleichtert. Ehe Anoki in mein Leben gekracht ist, hatte ich nie finanzielle Probleme – ich habe nicht mal über Geld nachgedacht. Dass ich plötzlich Lebensmittel auf Vorrat kaufe, wenn sie im Sonderangebot sind, beim Haarewaschen die Dusche abstelle und das Abo der fotoDIGITAL gekündigt habe, sind alles Folgen meiner Ausbeutung durch diesen unersättlichen Hardcorekonsumenten. Und meiner Unfähigkeit, ihm Widerstand zu leisten.
Ehe die Ferien beginnen, sorgt Anoki noch für Abwechslung. An einem Donnerstagabend wird er aufgegriffen, als er gemeinsam mit Nick in ein leer stehendes Haus einzubrechen versucht, und nur seine mit Sicherheit sehr professionell gespielte Naivität bewahrt ihn davor, erneut im Streifenwagen nach Hause gefahren zu werden. Trotzdem kriegen meine Eltern einen Anruf von der Polizei, der sie über Anokis Freizeitaktivitäten aufklärt. Zweimal übernachtet er bei Nick, ohne vorher Bescheid gesagt zu haben. An einem Dienstag kommt er total betrunken von der Theater-AG nach Hause. Und zwei Tage vor Beginn der Osterferien ist er auf dem Schulhof an einer Schlägerei beteiligt, nach der ein Siebtklässler ins Krankenhaus gebracht und ein weiterer vor Ort ärztlich versorgt werden muss. Anoki hat ein blaues Auge und eine Schnittwunde am linken Arm, die er meinen Eltern verheimlicht, weil er es nämlich war, der das Messer mit in die Schule genommen hatte – wo Waffen aller Art natürlich nicht erlaubt sind. Am folgenden Tag gibt es eine weitere Schlägerei, bei der er sich sein Messer zurückholt, diesmal allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit, so dass außer mir niemand davon erfährt. Ich bin auch der Einzige, dem er anvertraut, dass er von Ronny zwanzig Ecstasy-Tabletten gekauft hat, die er jetzt mit hundertsiebzigprozentigem Gewinn an der Schule weitervertickt, und dass Danny – das ist Nicks nächstälterer Bruder – ihm gezeigt hat, wie man ein Autotürschloss knackt.
Was meine Mutter mitbekommen hat, genügt ihr, um die Nerven zu verlieren. Sie schreit ihn an, droht ihm mit Hausarrest und so weiter. Das Schlimme ist, dass er jedes Mal ganz zerknirscht ist, wenn er auffliegt. Er ist das personifizierte Schuldbewusstsein, und man möchte immer wieder glauben, dass er es nun eingesehen hat und so etwas nie wieder vorkommt, weil er so viel Reue zeigt. Dafür sind die Abstände zwischen seinen Missetaten allerdings ziemlich kurz.
»Ich hab einen Wellness-Urlaub gebucht, während Anoki in Berlin ist«, erzählt meine Mutter mir. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie meine Nerven am Boden schleifen. Ich muss hier dringend mal raus.«
Niemand – nicht mal Anoki – glaubt, dass das eine spontane Entscheidung war. Wir sind uns sicher, dass sie diese Reise nach Bad Saarow schon vor Wochen geplant hat, was auch erklärt, warum sie seinem Wunsch, die Ferien bei mir zu verbringen, so viel Toleranz entgegenbringt.
Mein Vater ist bedrückt. »Wir hätten ja
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