Herzbesetzer (German Edition)
sind ganz blank vor Angst. Da die meisten Erfahrungsberichte nur auf Englisch verfügbar sind (es scheint, dass die Außerirdischen überdurchschnittlich viele Amerikaner entführen), ist Anoki gezwungen, seinen Wortschatz zu erweitern, und hat dafür mein Dictionary neben dem Laptop liegen. Es ist ein unbeschreiblicher Kick, ihm bei seinen Studien zuzusehen. Obwohl seine Naivität und Unwissenheit einen Großteil seiner Anziehungskraft ausmachen wenn er lernt, ist er auch total sexy.
Ziemlich oft vertieft er sich in sein Rollenbuch. Die Proben für das Theaterstück sind zu einer der wichtigsten Quellen seines Selbstvertrauens geworden. Er sagt, er spielt seine Rolle so, als wäre das jetzt die Wirklichkeit.
»Manche leiern ihren Text runter, als würden die den irgendwo ablesen«, kritisiert er. »Das hört sich total unnatürlich an, Alter! Ich red einfach so wie sonst auch. Da kann dann auch mal ’n Grammatikfehler dabei sein, scheißegal. Der Petzolt hat auch gesagt, das wär egal.« Sein Englischlehrer und Regisseur scheint eine gesunde Auffassung von Schülertheater zu haben. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass Anoki ein bisschen mehr Interesse an der Schule bekommen hat. Er scheint allmählich aus dem intellektuellen Dämmerschlaf des Heimkinds zu erwachen und festzustellen, dass es neben pythagoreischen Lehrsätzen, Rechtschreibregeln und Staatsstrukturen noch das eine oder andere Interessante zu lernen gibt. Er surft gern im Internet herum und hat eine verblüffende Geschicklichkeit darin entwickelt, Suchbegriffe herauszufiltern, Themengebiete einzugrenzen und die gewünschten Informationen ausfindig zu machen. Ganz und gar freiwillig schreibt er eine kleine Zusammenfassung zur Topografie des Landes Brandenburg. Allerdings erwische ich ihn auch dabei, wie er sich bei Drugscouts über die Marktpreise von Ecstasy informiert, dieser gewissenlose Dealer, und garantiert ist nicht alles, was er sich aus dem Internet an Informationen holt, legal und jugendfrei. Trotzdem lasse ich ihn gewähren – selbstständiger Umgang mit modernen digitalen Medien ist doch ein viel zitiertes Schlagwort, oder? Ich bin ja auch immer in der Nähe, denn ohne mein Passwort läuft gar nichts.
Wir verbringen allerdings kaum einen Abend nur zu Hause, dazu hat Anoki viel zu viele Wünsche: er will unbedingt noch mal ins Theater, er hat eine Liste von ungefähr zwanzig Kinofilmen angefertigt, die er sehen möchte, und alle paar Tage tritt irgendeine Band auf, die er schon ewig mal live sehen wollte. Außerdem sind wir bei Annalisa und Silvio eingeladen, und zweimal gehen wir mit Tom was trinken. Das Ganze ist ziemlich anstrengend, denn im Gegensatz zu Anoki darf ich meinen Wecker nicht überhören, sondern muss mich irgendwie aus dem Bett und zur Arbeit quälen, was von Tag zu Tag mehr Überwindung erfordert. Ich komme auch nicht dazu, mich nach Feierabend mal eine halbe Stunde aufs Ohr zu legen – da erwartet mich mein total ausgeruhter und vor Energie und Unternehmungslust vibrierender kleiner Folterknecht. Die Folge ist, dass ich mehrmals an meinem Arbeitsplatz einnicke und einmal von meiner Chefin mit den Worten geweckt werde: »Ah, Herr Trojan, schön, dass Sie Ihre Zeit hier so sinnvoll nutzen!« Sie hat diese sarkastische Art, die ich bei Frauen unheimlich abtörnend finde.
53
Am Ostersonntag kommt mein Vater zu uns nach Berlin. Das war meine Idee. Ich hab mir vorgestellt, wie er die ganzen Feiertage allein in dem großen Haus rumsitzt, und da tat er mir leid, deshalb hab ich ihn eingeladen, mit uns brunchen zu gehen. Weil das Wetter so schön ist, machen wir nachmittags eine Schiffstour über die Spree. Während Anoki rastlos auf dem Dampfer unterwegs ist und Ventile für seinen Energieüberschuss sucht, fragt mein Vater mich: »Wie kommst du denn mit ihm klar? Ist das nicht sehr anstrengend?«
Sicher sehe ich fast genauso grau und müde aus wie er. Aber ich sehe mich genötigt, ihn zu beruhigen: »Ach, das geht schon. Er will natürlich dauernd beschäftigt werden, aber weißt du, er gibt sich auch richtig Mühe. Er geht einkaufen, hält die Wohnung in Ordnung, macht die Wäsche und so. Mittwoch Abend hat er sogar was gekocht. Daraus haben wir dann kleine Männchen und Tiere geformt.«
Mein Vater grinst. »Ach ja, in der Küche taugt er wirklich nicht viel. Er wollte uns mal einen Vanillepudding zum Nachtisch machen und hat Salz statt Zucker genommen.« Dann wird er wieder ernst. »Aber wenn er den ganzen Tag
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