Herzbesetzer (German Edition)
auch zusammen verreisen können«, findet er.
»Fahr ihr doch hinterher und überrasch sie«, schlage ich ihm vor, »ist ja nicht weit.« Ich male mir aus, wie er erwartungsvoll die Tür zu ihrem Hotelzimmer öffnet und sie in den Armen eines anderen findet. »Aber am besten erholt sie sich bestimmt, wenn sie mal Abstand kriegt«, füge ich hastig hinzu.
Für meinen Geschmack übertreibt Anoki es in letzter Zeit ein bisschen mit der Gesetzwidrigkeit. Ich bin zwar in keinem dieser Fälle so unmittelbar betroffen wie bei der Sache mit der kopierten DVD, aber ich mache mir Sorgen – um ihn und um meine Eltern. Wenn das so weitergeht, kommt es irgendwann zur Katastrophe. Gleich an seinem ersten Abend in Berlin rede ich ihm ins Gewissen.
»Versuch doch mal, dein Gehirn einzuschalten, bevor du irgendwas machst«, appelliere ich an seine Vernunft. »Zum Beispiel die Sache mit dem Messer. Wozu zum Geier schleppst du ein Messer mit in die Schule? Du weißt doch ganz genau, dass das nicht erlaubt ist.«
»Na, zur Verteidigung«, sagt Anoki mit großen, unschuldigen Kinderaugen. »Die meisten in meiner Klasse können mich nicht leiden. Die nennen mich immer noch Nokia und machen ihre blöden Witze. Und ’n paar sind auch dabei, die drohen mir dauernd Prügel an. Einer hat mir schon mal auf ’m Weg zum Karatetraining aufgelauert und wollte mir ’ne Flasche an den Kopf werfen. Zum Glück hab ich den aber in letzter Sekunde noch gesehen, deshalb hat der mich nicht getroffen.«
»Wenn so was passiert, musst du es sofort jemandem sagen!«, beschwöre ich ihn. »Einem Lehrer oder meinen Eltern oder mir! Dann kann man doch was dagegen unternehmen!«
Anoki sieht nicht überzeugt aus. Ich nehme sein Gesicht zwischen meine Hände und zwinge ihn, mir in die Augen zu sehen. »Hey, du hast jetzt eine Familie. Du bist nicht allein. Du brauchst dich nicht selbst zu verteidigen. Wir helfen dir.«
Ich bin nicht so naiv anzunehmen, dass damit alle Probleme gelöst seien. Die meisten von Anokis Delikten basieren ja nicht auf Selbstverteidigung, sondern mehr auf Abenteuerlust oder auf dem Wunsch nach Anerkennung oder schlichtweg auf fehlendem Unrechtsbewusstsein.
»Und dieser Einbruch?«, sage ich. »Wozu sollte der gut sein?«
Anoki schnaubt verächtlich. »Einbruch! Was für’n Quatsch! Das ist doch ’ne uralte, leere, zerfallene Bruchbude – da gibt’s doch überhaupt nichts zu holen! Wir wollten da einfach bloß mal rein, aus Neugier. Vielleicht hätt man da drin ’n fettes Feuerchen machen können oder so.«
Wegen des unerlaubten Fernbleibens von zu Hause und des Besäufnisses bei der Theater-AG will ich Anoki jetzt nicht auch noch runterputzen, aber die Sache mit den Ecstasy-Pillen muss unbedingt geklärt werden. Er wiegelt ab und behauptet, er hätte sie nur an Leute verkauft, die sowieso total doof seien und bei denen es nicht schade sei, wenn sie in irgendeiner Dorfdisco auf der Tanzfläche zusammenklappen.
»Red doch nicht so einen infantilen Mist!«, brülle ich.
»So einen was?«, fragt Anoki verständnislos. Wahrscheinlich ist die gute alte Tracht Prügel nicht umsonst das traditionelle Erziehungsmittel Nummer eins. Man sieht ja, dass es überhaupt keinen Sinn hat, mit renitenten Teenagern zu reden, die verstehen einen ja noch nicht mal.
»Wenn du mal ein Buch in die Hand nehmen würdest, anstatt deine gesamte Freizeit mit Straftaten auszufüllen, hättest du einen größeren Wortschatz, und dann könnte man sich sogar mit dir unterhalten«, gifte ich ihn an.
Anoki lächelt, als hätte ich ihm ein Kompliment gemacht. »Dass du immer so sauer wirst!«, kichert er. »Als wenn das was mit dir zu tun hätte.« Er hätte auch sagen können: Steck deine Nase nicht in meine Angelegenheiten. Mit jeder Sekunde nähert er sich der finalen Ohrfeige, und das sage ich ihm auch, aber da fragt er bloß: »Was ist finalen?«
52
Das erste Wochenende haben wir ganz gut gemeistert – mit Kino, Lenkdrachen steigen lassen, Trödelmarkt, Inline-Skaten an der Spree entlang, Bummel über die Friedrichstraße, Rockkonzert, morgendlichem Joggen, Pferdewetten auf der Galopprennbahn, Marionettentheater und natürlich regelmäßiger Aufnahme gewaltiger Nahrungsmengen. Nach Möglichkeit zu Hause, weil das billiger ist. Aber was macht man, wenn man mitten im Regierungsviertel plötzlich einen akut vom Hungertod bedrohten Vierzehnjährigen neben sich hat, der schon ganz schwach ist vor Auszehrung und sich kaum noch auf seinen
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