Herzbesetzer (German Edition)
will sie länger wegbleiben, jedenfalls soll sie gleich nach Feierabend einen Koffer gepackt haben und damit abgerauscht sein. Weder mein Vater noch Anoki kennen ihr Ziel. Sie bestätigen nur, dass hier seit Tagen dicke Luft herrscht. Dabei hat Anoki sich seit Dienstag nichts mehr zuschulden kommen lassen, wie er mir beteuert – »nicht mal ’n Päckchen Kaugummi geklaut, Alter«.
Mein Vater eiert hilflos in der Küche rum und müht sich erfolglos, das vorgekochte und eingefrorene Abendessen für uns aufzuwärmen. Sogar Anoki stellt sich beim Kochen geschickter an. Ich eile ihm zu Hilfe, ohne es ihn spüren zu lassen.
»Was war denn los?«, frage ich ihn unter vier Augen. »Habt ihr euch gestritten?«
Er zuckt resigniert die Achseln. »Tja, das kommt in letzter Zeit öfter mal vor«, gibt er zu. »Sie ist überfordert, das ist es. So hat sie sich das nicht vorgestellt. Wahrscheinlich hat sie sich einfach überschätzt. Aber sie ist ja nun mal auch nicht jünger geworden in den letzten fünf Jahren.«
Erst nach zehn, als mein Vater zweieinhalb Stunden lang fast ohne Unterbrechung gegähnt hat und im Bett verschwunden ist, wende ich Anoki meine volle Aufmerksamkeit zu und entscheide zugleich, dass er jetzt eine erhöhte Dosis Liebe benötigt. Wir prügeln uns um den begehrten Platz auf dem Fernsehsessel, der sonst stillschweigend dem Herrn des Hauses vorbehalten ist, und quetschen uns schließlich gemeinsam hinein. Ich spüre, wie sehr Anoki das braucht – das Gerangel genauso wie das Gekuschel. Hauptsache Körperkontakt. Trotzdem ist Anokis Verfassung nicht die beste. Ich begreife langsam, wie groß seine Angst davor ist, dass erneut alles um ihn zusammenbricht und er plötzlich wieder einer komplett veränderten Situation gegenübersteht. Also versuche ich, ihm Stabilität zu vermitteln, und frage ihn nach den Fortschritten bei seinen Theaterproben – ein Thema, das ihn immer zum Reden und seine Augen zum Leuchten bringt. Ich zeige meinen Stolz und meine Bewunderung für ihn in einem Maße, das ich gerade eben noch mit meiner Rolle als überlegener, zehn Jahre älterer Bruder in Einklang bringen kann, und ich spüre, wie es ihn aufbaut.
Trotzdem fragt er irgendwann später, als im Fernsehen bereits der erste Erotikfilm beginnt (ein unglaublich primitives Machwerk, das zudem auch noch stark geschnitten zu sein scheint): »Willst du jetzt was richtig Ernstes anfangen mit der Ökoschnalle?«
»Ich sag das nur noch ein Mal, du Kindergartenpunk«, erwidere ich: »Red anständig von ihr. Sonst ist das Thema für dich gesperrt.«
Anoki verschränkt die Arme vor der Brust und weicht meinem Blick aus. »Jajaja. Also, willst du oder nicht?«
Ich warte noch ein paar Sekunden und sehe ihn dabei forschend an, um rauszufinden, ob er meine Warnung verstanden hat. »Weiß ich nicht«, sage ich dann. »Ich hab sie gerade erst kennengelernt. Also, Ringe hab ich noch keine gekauft, falls du das meinst.«
Er verzieht keine Miene. »Nee – das mein ich nicht«, sagt er leicht gereizt. »Aber du wirst doch wohl ’ne Idee haben, ob du die wiedersehen willst. Oder wie die so war. Oder bist du dabei eingeschlafen?«
Ich erkenne, dass ich mich auf ultradünnem Eis bewege, und wenn ich auch nur ein falsches Wort sage, hole ich mir weit mehr als einen nassen Turnschuh. Also versuche ich es mit der Wahrheit, als Scherz getarnt. »Hör mal – gegen dich sind die doch alle nur Abziehbilder. Aber was soll ich denn machen? Ich bin jung, gesund und im Vollbesitz meiner Potenz. An dich komm ich nicht ran – also muss ich mir irgendein Ventil suchen. Na ja, und Judith war gerade verfügbar.« Ich habe gehofft, dass Anoki kichert und mir den Ellbogen in die Rippen rammt oder so was, aber er guckt mich todernst an und sagt: »Wie, du kommst an mich nicht ran? Ich sitz auf deinem Schoß, Alter!«
Was in jeder Hinsicht den Tatsachen entspricht. Ich fange furchtbar an zu schwitzen. »Äh, ja, richtig. Aber, hm, na ja. Du bist erst vierzehn und so. Ach ja, und männlich, glaub ich. Und – ja! Mein Bruder. Stimmt’s?«
Anoki beugt sich vor und greift nach seinem Glas. Er trinkt es leer, erhebt sich aus unserem gemeinsamen Sessel, reckt sich ausgiebig, bringt das Glas in die Küche, kommt zurück und sagt: »Tja. Dann scheide ich wohl aus. Ich geh schlafen, gute Nacht.«
Ich stehe am Samstag extra früh auf und decke den Frühstückstisch, um meinem Vater die Qual zu ersparen, daran zu scheitern. Er kommt kurze Zeit nach mir
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