Herzbesetzer (German Edition)
runter.
»Das brauchst du doch nicht zu machen«, murmelt er unbeholfen.
»Nee, klar, ich kann auch ’n Kasten Bier holen«, witzele ich, »aber wir wollen Anoki doch gute Vorbilder sein.«
Er lässt sich auf einen Stuhl fallen, als habe ihn der Weg vom Schlafzimmer hierher erschöpft. »Na, das bist du ja sowieso.«
In meiner Empfindlichkeit deute ich das zunächst als Ironie, bis mir klar wird, dass er es ernst meint. »Ach, na ja«, wiegele ich verlegen ab. Ich fürchte, ich werde rot, deshalb beuge ich mich über die Kaffeemaschine.
»Doch, doch«, beharrt mein Vater. »Ich glaub, wenn du nicht wärst, dann wär das Experiment schiefgegangen.«
Das Experiment? Meint er damit Anokis Aufnahme in unsere Familie? Diese Wortwahl gefällt mir kein bisschen, allerdings war mein Vater ja von Anfang an äußerst skeptisch. Und ich sogar absolut dagegen. Ich muss lachen, als ich mich daran erinnere.
»Weißt du noch, dieses erste gemeinsame Testwochenende?«, sage ich. »Wie ich mit ihm Riesenrad fahren musste? Ich hab mir echt überlegt, ob ich ihn aus der Gondel schubsen soll.«
Mein Vater grinst nun ebenfalls. »Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen«, sagt er bedächtig. »Jetzt hat man mehr so das Gefühl, er ist dir richtig ans Herz gewachsen.«
Ich hoffe, er hört meinen Seufzer nicht.
59
Am Sonntagmittag kommt meine Mutter zurück. Wir haben gerade gegessen und sitzen noch im Esszimmer, und keiner von uns weiß so richtig, wie er reagieren soll. Schließlich stehe ich auf und gehe zu ihr rüber, obwohl sie mich seit über fünf Jahren nicht mehr zur Begrüßung umarmt hat.
»Schön, dass ich dich doch noch sehe«, sage ich ohne Zynismus. »Wo warst du denn?«
Ihr Blick wandert von mir zu meinem Vater und von dort weiter zu Anoki. Alle sehen sie erwartungsvoll an. »Tapetenwechsel«, sagt sie. »Musste mal was anderes sehen.« Sie geht ihre Jacke an die Garderobe hängen, dann kommt sie wieder rein und fragt: »Habt ihr den Kirschpudding nicht gefunden, den ich in den Kühlschrank gestellt hab?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, holt sie die Schüssel heraus und stellt sie auf den Tisch, danach vier Schälchen und Löffel, und dann essen wir alle zusammen unseren Nachtisch wie eine ganz normale Familie.
Niemand traut sich, meine Mutter nach Details zu fragen, und sie scheint nicht die Absicht zu haben, unaufgefordert zu reden.
Später bin ich allein mit ihr in der Küche, und ich frage: »Wird dir das zu viel mit Anoki?«
Sie gibt erst keine Antwort, und ich denke schon, sie will meine Frage ignorieren. Aber dann sagt sie: »Kann sein. Ich hab nicht damit gerechnet, dass er so schwierig sein würde. Dieser Druck … Dauernd hab
ich Angst, dass er wieder was anstellt. Du kannst dir das nicht vorstellen.«
Ich lasse mir das einen Moment durch den Kopf gehen und riskiere schließlich zu fragen: »Warum bringt ihr ihn dann nicht zurück?«
Meine Mutter wirft mir einen schnellen Blick zu, als wolle sie überprüfen, ob ich das ernst meine oder ob ich sie provozieren will. »Würdest du das machen?«, reagiert sie mit einer Gegenfrage.
Ich schüttele den Kopf. »Nee. Natürlich nicht. Das wäre das Schlimmste, was man ihm antun könnte, und außerdem die totale Kapitulation. Und ich glaube auch, man kann das alles in den Griff kriegen.«
An der hastigen Bewegung, mit der meine Mutter sich von mir abwendet, merke ich, dass sie das Letztere nicht hören wollte. »Klar«, murmelt sie, »dass du das glaubst.«
»Ist doch so!«, beharre ich. »Er ist doch nicht von Grund auf schlecht oder so was! Er macht das nicht, um euch zu schaden. Ihm fehlen einfach noch so ein paar Grundregeln. Respekt vor fremdem Eigentum, Verzicht lernen, Risiken einschätzen, sich nicht von der Meinung anderer abhängig machen … so Sachen eben. Das kann er aber alles lernen.«
Sie seufzt genervt und gibt keine Antwort mehr.
Anoki hat massive Ängste. Es ist nicht so, dass er bei meinen Eltern über die Maßen glücklich wäre, aber er weiß, was er hat – und er möchte es weder gegen eine ungewisse Zukunft noch gegen den Schritt zurück ins Heim mit seinen mobbenden Mitbewohnern tauschen. Jedenfalls lassen seine illegalen Aktivitäten spürbar nach. Aus lauter Nervosität unterlaufen ihm dafür jetzt andere Missgeschicke, um das mal so zu nennen. In kurzen Abständen hat er drei kleinere Unfälle: einen mit dem Skateboard, einen beim Sportunterricht und den dritten beim Überqueren der Straße, wo er direkt
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