Herzbesetzer (German Edition)
vor seinem Schulgebäude von einem Fahrrad über den Haufen gefahren wird. Zum Glück ist nichts davon allzu dramatisch, aber meine Mutter dreht jedes Mal durch, wenn er wieder blutend wie ein Schwein oder mit einem frischen Verband zu Hause eintrifft. Außerdem gerät Anoki zunehmend öfter in Handgreiflichkeiten, meist mit Mitschülern. Er scheint den Schlamassel geradezu anzuziehen.
Ich habe ebenfalls ein Problem, nämlich einen klassischen Interessenkonflikt. Judith gefällt mir ganz gut. Ich bin vielleicht nicht gerade unsterblich in sie verliebt, aber sie ist nett, liebevoll und anregend – auch geistig, was sie wohltuend von Janine unterscheidet. Darüber hinaus zählt es zu ihren Vorteilen, dass sie Anoki so unähnlich ist wie nur möglich, dann muss ich wenigstens nicht dauernd an ihn denken, wenn ich mit ihr zusammen bin. Im Großen und Ganzen kann ich mir eine meinetwegen auch längerfristige Beziehung mit ihr vorstellen. Dazu wäre es allerdings erforderlich, Zeit mit ihr zu verbringen, und genau an dieser Stelle gerät die Sache ins Stocken. Judith arbeitet von Montag bis Freitag bei einem Versandhandel, hat um halb vier Feierabend, holt ihre Tochter vom Hort ab und verbringt dann den Abend mit ihr. Jedes zweite Wochenende ist Una bei ihrem Vater. Das wäre die Gelegenheit für Judith und mich, ungestört beisammen zu sein – wenn ich nicht grundsätzlich von Freitag bis Sonntag in Neuruppin wäre. Judith hat zuerst nicht verstanden, wieso ich ausnahmslos jedes Wochenende bei meinen Eltern verbringen muss, und hielt mich für ein rückgratloses Muttersöhnchen, bis ich ihr von meinem sozialen Engagement für dieses vernachlässigte, erbarmungswürdige Waisenkind erzählt habe. Unter Betonung der selbstlosen Aspekte und Verleugnung jeglichen Eigeninteresses habe ich mir damit meinen Heiligenschein verdient, denn Judith bewundert es, wenn man sich für Schwächere einsetzt. Aber die Zeitfrage habe ich trotzdem nicht gelöst.
Ich stelle mir vor, wie ich meinem tödlich eifersüchtigen Prinzchen eröffne, dass ich ihn ab sofort nur noch alle vierzehn Tage besuche, weil ich mehr Zeit mit Judith verbringen will. Ohne dass ich es beeinflussen könnte, läuft ein Schreckensszenario von Wutanfällen, Tränenausbrüchen, Erpressung, Gewalt und schwärzester Verzweiflung vor meinem inneren Auge ab. Dabei habe ich noch nicht berücksichtigt, dass ich es gar nicht aushalten würde, Anoki so lange nicht zu sehen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass ich Judith weiterhin immer nur abends treffe, sobald ihre Tochter schläft, aber wenn ich bei Judith bin, lauscht sie ständig mit einem Ohr auf Geräusche aus Unas Kinderzimmer, und wenn sie zu mir kommt, hat sie ein schlechtes Gewissen, ist unkonzentriert und verkrampft. Außerdem möchte sie Una mit einbeziehen. Sie sagt es nicht explizit, aber sie will einen Partner haben, der gleichzeitig auch Ersatzvaterpotenzial besitzt. Womit wir beim nächsten Problem wären: ich und Hobbypapa einer Neunjährigen? Wie soll das denn gehen? Ich bin ja schon froh, wenn ich meinen ausgeflippten Neubruder in den Griff kriege. Mit kleinen Mädchen kann ich noch weniger anfangen. Und – ich muss es gestehen – mit Una erst recht nicht. Sie ist schnippisch, altklug und feindselig. Da Judiths Interesse an mir schmeichelhaft groß ist, akzeptiert sie vorläufig den Stand der Dinge, aber mir ist klar, dass ich sie nicht ewig hinhalten kann.
Übrigens hat sich Anokis Verhalten mir gegenüber verändert, seit er von Judith weiß. Er sendet so eine Art »Ich-hätte-ja-gewollt-aber-du-ja-nicht«-Signale aus, die ich mehr als irritierend finde – zumal er vorher nie irgendeine Form von Zuneigung zu mir gezeigt hat, die über das für Brüder zulässige Höchstmaß hinausging. Jetzt führt er sich auf wie eine zurückgewiesene Diva. Ich bin realistisch genug, um zu wissen, dass das nur Ausdruck seines Ärgers über mich ist – dass ihm jedes Mittel recht ist, um mich wieder zu seinem exklusiv ihm ergebenen Sklaven zu machen –, aber es verwirrt mich trotzdem, besonders weil er neuerdings auch keine Gelegenheit auslässt, mich zu berühren, zu umarmen – fast möchte ich sagen: mich anzumachen. Ich glaube, ich muss mich vor ihm in Acht nehmen.
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Es scheint, als seien die paar Schultage zwischendurch nur so eine Art Vor- und Nachbereitung der entschieden umfangreicheren Ferienzeiten. Im Moment rücken die Sommerferien mit wachsender Bedrohlichkeit auf mich zu: sechs
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